“Demokratie
braucht
politische Bildung”

Politische Erwachsenenbildung braucht Freiräume: Für eine Stärkung des Anspruchs auf Bildungsfreistellung in Deutschland

30.08. 2018

Bildungsfreistellung bzw. Bildungsurlaub bezeichnet das Recht von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, zum Zweck der Weiterbildung unter Fortzahlung des Gehalts von der Arbeit freigestellt zu werden.

 

Die große Errungenschaft der Bildungsfreistellung liegt in der freien Auswahl des Weiterbildungsangebotes, das nicht zwingend in Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit stehen muss. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bestimmen die Schwerpunkte ihrer Weiterbildung selbst. Bildungsfreistellung bzw. Bildungsurlaub ist ein Instrument des Arbeitsrechts zur Förderung der Initiative von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zum lebenslangen Lernen. In der Regel hat jeder Arbeitnehmer/jede Arbeitnehmerin nach einer 6-monatigen Betriebszugehörigkeit ein Recht auf Bildungsfreistellung, zumeist auf fünf Tage im Jahr – außer in Bayern und Sachsen.

 

Bereits im Jahr 1976 trat das ILO-Übereinkommen 140 über den bezahlten Bildungsurlaub in Kraft. Die Bundesrepublik ratifizierte es noch im selben Jahr und verpflichtete sich völkerrechtlich verbindlich, die Gewährung von bezahltem Bildungsurlaub durch Gesetzgebung, Gesamtarbeitsverträge und Schiedssprüche sicherzustellen.

 

Allerdings hat der nationale Gesetzgeber bis heute sein Recht auf eine bundesgesetzliche Regelung nicht wahrgenommen. Vielmehr regeln in mittlerweile 14 Bundesländern Landesgesetze den Anspruch auf bezahlten Bildungsurlaub bzw. Bildungsfreistellung. Dies führte insbesondere in den 1990er Jahren zu Abwehrhaltungen bei Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern und zu politischen Auseinandersetzungen in einigen Bundesländern, die aber nicht zur Abschaffung des Bildungsurlaubs führten.

 

Der AdB begrüßt zwar die Ausweitung der Freistellungsgesetze, zuletzt in Baden-Württemberg und Thüringen, bedauert aber, dass Bayern und Sachsen sich noch immer nicht zur Verabschiedung eines Bildungsfreistellungsgesetzes durchringen konnten.
Die von einigen Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern vermutete massenhafte Inanspruchnahme durch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer blieb bisher aus. Die von manchen Politikern als angeblich standortgefährdend kritisierte Belastung für die Betriebe liegt im kaum messbaren Bereich. Im Schnitt nahm nur rund 1 Prozent aller Berechtigten pro Jahr ihren Anspruch wahr. Dennoch sind es z. B. in Niedersachsen bis zu rund 38.800 Teilnehmende innerhalb eines Jahres (2013)* gewesen, die an anerkannten Bildungsurlaubs- bzw. Bildungsfreistellungs-Veranstaltungen in Niedersachsen, in anderen Bundesländern oder im Ausland teilgenommen haben.

 

* Vierzehnter Bericht der Landesregierung über die Durchführung des Niedersächsischen Bildungsurlaubsgesetzes, Drucksache 17/4165, ausgegeben am 07.09.2015

Politischer Handlungsbedarf

Vergleicht man die jeweiligen Landesgesetze, sind viele Übereinstimmungen bezüglich der Ziele, der Ausrichtung und des Themenkatalogs zu finden. Dennoch weichen eine Reihe von Details voneinander ab, was die Planung, Durchführung und Administration für alle Beteiligten erheblich erschwert: z. B. wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus mehreren Bundesländern an einem Seminar teilnehmen; wenn ein Seminar in einem Bundesland als Bildungsurlaub/Bildungsfreistellung anerkannt wird, in einem anderen Bundesland aber nicht. Dazu einige Beispiele:

  • Schon die Benennungen sind uneinheitlich: Neben dem klassischen Begriff "Bildungsurlaub" tauchen in einigen Landesgesetzen Begriffe wie "Bildungsfreistellung" und auch "Bildungszeit" auf.
  • Unterscheidungen gibt es auch in den anerkennungsfähigen Lernbereichen: Es wird in der Regel zwischen beruflicher und politischer Weiterbildung unterschieden, wobei einzig Sachsen-Anhalt ausschließlich für berufliche Weiterbildung Bildungsfreistellung gewährt. Einige Bundesländer erlauben eine Freistellung auch für die Qualifizierung zur Wahrnehmung eines Ehrenamtes (Baden-Württemberg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Saarland, Schleswig-Holstein, Thüringen), wenige Bundesländer wie Brandenburg oder Schleswig-Holstein auch zur kulturellen Weiterbildung oder wie Bremen und Niedersachsen zur Allgemeinen Weiterbildung.
  • Die Mindestdauer der Veranstaltungstage und die Seminarzeit pro Tag unterscheiden sich je nach Bundesland. Sie variieren von einem Tag bis zu zwingend fünf aufeinanderfolgenden Tagen und von 4,5 bis zu 6 Zeitstunden pro Seminartag.
  • Auszubildende haben nicht in allen Bundesländern vollen Anspruch auf Bildungsurlaub/-freistellung. Diese sind zumeist begrenzt und auf die gesamte Ausbildungszeit nur einmal anwendbar.
  • Auch die Anerkennungsverfahren und die Anerkennungsfristen unterscheiden sich in den einzelnen Bundesländern. Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg kennen nur Trägeranerkennungen und keine Anerkennung einzelner Maßnahmen. In Hessen können nur Veranstaltungen anerkannt werden, wenn zuvor der Träger der Veranstaltung anerkannt wurde (wobei eine Ausnahmeregelung für Träger außerhalb Hessens existiert). Nur wenige Bundesländer (z. B. das Saarland) übernehmen Anerkennungen aus anderen Bundesländern. Berlin und Brandenburg erkennen zumindest gegenseitig an.

Stärkung der politischen Bildung durch Bildungsfreistellung

Der AdB als bundesweiter Fachverband der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung sieht das Recht auf Bildungsfreistellung als notwendiges und zielführendes Instrument, um die Weiterbildungsbereitschaft von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in den von ihnen gewünschten Themenfeldern zu fördern und insbesondere in der politischen Bildung ein geschütztes oder öffentliches Forum zur Diskussion aktueller gesellschafspolitischer Kontroversen anbieten zu können. Die Auseinandersetzung über Fragen der Demokratie, der deutschen Geschichte und des Nationalsozialismus, über Menschenrechte, Digitalisierung, die Zukunft der Arbeit und die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an Entscheidungen in kommunalpolitischen Zusammenhängen, um nur einige Beispiele zu nennen, braucht freie Zeit und Freistellung, um abseits des beruflichen Alltages diese Fragen mit Interessierten bearbeiten zu können.

 

Der AdB fordert daher die Bundesländer auf,

  • die Bildungsurlaubsgesetze/-freistellungsgesetze zu vereinheitlichen und gegenseitige Anerkennungsverfahren einzuführen, um erschwerende Hürden deutlich abzubauen. Die vielfältigen und zum Teil gegensätzlichen Regelungen in den einzelnen Bundesländern und die fehlende gegenseitige Anerkennung erschweren es den Weiterbildungsträgern, bundesweit Programmangebote zu offerieren.
  • eine Kampagne zur Erhöhung des Bekanntheitsgrades des Rechts auf Bildungsfreistellung zusammen mit den Weiterbildungsträgern zu starten. Der bestehende Anspruch auf Bildungsfreistellung ist in der Gesellschaft zu wenig bekannt und wird zu wenig genutzt.
  • den heute missverständlichen Begriff "Bildungsurlaub" zukünftig einheitlich als „Bildungsfreistellung“ in die Landesgesetze zu übernehmen, um ggf. Ressentiments bei Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern nicht weiter zu befördern und deutlich zu machen, dass es sich bei Bildungsurlaub nicht um Urlaub im Sinne eines Erholungsurlaubs, sondern vielmehr um eine Freistellung zur Weiterbildung handelt.
  • Anreize zu schaffen, die Bildungsfreistellung noch stärker als wichtiges Instrument zur Förderung der Demokratie durch die Ermöglichung politischer Bildung in allen Bundesländern wahrzunehmen.
  • die Freistaaten Bayern und Sachsen bei der Schaffung eigener Bildungsfreistellungsgesetze zu unterstützen.

 

Der AdB begrüßt darüber hinaus die Initiative der neuen Bundesregierung zur Stärkung einer demokratischen Zivilgesellschaft und sieht insbesondere bei den Altersgruppen der Erwerbsbevölkerung den Rechtsanspruch auf Bildungsfreistellung als notwendige Voraussetzung, um damit zusammenhängende Bildungsangebote und Bildungsprozesse realisieren zu können.

 

Die Nutzung des Bildungsschecks für Angebote der politischen Bildung im Rahmen von Bildungsfreistellung ist aus Sicht des AdB eine dringend gebotene Maßnahme zur Erhöhung der Weiterbildungsbereitschaft von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern außerhalb ihrer beruflichen Tätigkeit. Die Bundesregierung wird aufgefordert, die Vergabebedingungen dahingehend anzupassen.

 

Bildungsfreistellung kann Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer befähigen, an gesellschaftspolitischen Diskursen teilzunehmen und sich in die Gesellschaft einzubringen. Sie ist daher nicht nur im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Bildungsveranstalter, sondern sie entspricht dem gesamtgesellschaftlichen Interesse an einer nachhaltigen und zukunftsfähigen Entwicklung.

 

Beschlossen vom AdB-Vorstand am 20. Juni 2018. Diese Positionierung fußt auf einer Zuarbeit der AdB-Kommission Erwachsenenbildung.