„Neutrality – an ever demanding Task for Education?“ – DARE-Workshop im Europäischen Parlament
Ist politische Bildung polarisierend und parteilich? Indoktrinieren Bilder*innen Lernende? Sollten Bildner*innen, Jugend- oder Sozialarbeiter*innen eine neutrale Position in Bezug auf den demokratischen politischen Prozess oder auf demokratisch gewählte Entscheidungsträger*innen wahren? Welche Konflikte entstehen dabei für Bildner*innen? Und überhaupt: Ist die Forderung nach Neutralität begründbar? Sind solche Forderungen vielleicht eine Agenda gegen demokratisches Engagement und gegen Bildungsarbeit für Demokratie?
Diese Fragen leuchtete das DARE Network am 19. November 2024 mit einer Diskussionsveranstaltung im Europäischen Parlament im Rahmen der Lifelong Learning Week 2024 aus. Auf Einladung von MEP Ana Catarina Mendes (S&D Group), Ko-Vorsitzende des LIBE-Ausschusses, ging es darum, politische Strategien demokratisch gewählter Nicht-Demokraten und ihrer pressure groups in Bezug auf die verschiedenen Felder Lebenslangen Lernens exemplarisch herauszuarbeiten.
Die Referent*innen beschrieben zwei Trends:
- Erstens: Konkrete Angriffe auf die Arbeit von Einrichtungen/Trägern in den Feldern der formalen und non-formalen Bildungs- und Jugendarbeit (und in verwandten Feldern). Neben dem Instrumentarium budgetärer Einschnitte, administrativer Hürden, Umformulierungen von Curricula, Veränderungen rechtlicher Rahmenbedingungen etc., ist vor allem zu bemerken, dass die Rollen, Verantwortung und Bildungsansätze der jeweiligen Institutionen/Träger in Frage gestellt werden. Primär wird Pluralismus und gesellschaftliche Vielfalt als ideologisch gerahmt und die Etablierung eines neuen kulturell-hegemonialen Diskurses von gesellschaftlicher Normalität vorangetrieben.
- Zweitens erscheint Verstummen im Sinne von Verunsicherung, faktischer Einengung, diskursiver Angriffe und daraus resultierender Ängste eine Strategie zu sein, die zu Selbst-Beschränkung der Arbeitsfelder und ihrer Akteur*innen führt.
Am Beispiel der Agenda der Fico-Koalition in der Slowakei in der Menschenrechts- und Kulturpolitik und Mediengesetzgebung stellte Sylvia Tyriaki (Helsinki Institute for Human Rights Slovakia) dar, wie die Legitimität liberaler zivilgesellschaftlicher Akteur*innen in Frage gestellt wird. Neben der Etablierung eines auf nationale Kultur und Werte fokussierten Diskurses, eines durch umstrukturierte öffentliche Medien (Auflösung der ÖR-Rundfunkanstalt), einer massiven Beeinflussung der Informations- und Medienfreiheit, werden neue Strukturen aufgebaut, die unter denselben Überschriften staatliche Fördermittel erhalten. Steuerrechtlich wird justiert – bspw. von Abschreibungsmöglichkeiten: Die für die Zivilgesellschaft wichtigen Einkommenssteuerspenden an gemeinnützige Akteur*innen der Zivilgesellschaft kommen nur den Organisationen zu Gute, die auch weiterhin als gemeinnützig anerkannt werden. Ähnlich ist auch das Vorhaben, eine Registrierung für Organisationen zu etablieren, die aus dem Ausland Geld erhalten (selbst wenn dieses bspw. Fördermittel der EU aus dem Programm Erasmus+ sind), zu bewerten.
Nils-Eyk Zimmermann (AdB) stellte für den deutschen Kontext die aktuellen Diskussionen um Gemeinnützigkeit und „politisches“ Engagement vor. Ein Argument trage in Deutschland zur Verunsicherung bei: Fördermittelempfänger sollten politische Neutralität wahren, als ob sie Verwaltungsakteure wären – von der AfD und anderen leider sehr erfolgreich wie faktenwidrig vertreten. Außerdem sollten Bildner*innen angeblich in verschiedener Hinsicht neutral sein.
Am Beispiel der Diskussion um den Beutelsbacher Konsens wurde hierbei betont, dass nach Mehrheitsmeinung in Politik und Rechtsprechung politische Bildung gegenüber ihrem eigentlichen Subjekt – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten – sich keinesfalls neutral zu verhalten habe, sondern vielmehr dafür einstehe. Genau dieses Einstehen für bedeutet im engeren Sinne Transparenz über die zugrundeliegenden Prinzipien in Bildung/Jugendarbeit herzustellen (Kontroversität, Minderheitenrechte, keine Überwältigung/Indoktrinierung, Faktenbasiertheit, faire und um objektive Einordnung bemühte Diskussion von gesellschaftspolitischen Fragen). Neutralität sei nicht der geeignete Begriff, um das Ermöglichen der freien und kritischen Urteilsbildung der Lernenden abzusichern.
Tamar Shuali (International Institute for Education for Democratic Citizenship an der katholischen Universität Valencia) betonte in ihren Ausführungen die Spannungsverhältnisse denen sich politische Bildung insbesondere auch in der Ausbildung offensiv stellen müsse, bspw. das Recht auf Schutz vor Belästigung/Bedrohung vs. Freie Meinungsäußerung/freie Rede. Am Beispiel der aktuell in Katalonien stattfindenden Bemühungen zur Einschränkung des Spanischen im Bildungswesen zeigte sie die Schwierigkeit auf, die sich gerade aus dem Minderheitenschutz ergibt.
Balint Josa vom ibb Dortmund hob die Herausforderung hervor, die aus seiner Sicht in einem medial globalisierten Kontext von Bildung und Jugendarbeit wächst: „Any global events are immediately discussed among pupils and teachers are pressured to have opinions, choosing a side and have no time to prepare. As many situations are more complicated, but in a polarised society every issue is made to be black and white, being in the neutral zone is not an option. And this is where authoritarianism has an advantage as it puts immediate sanctions on doubts/diverging views.“
Am Beispiel seiner eigenen Erfahrung als langjähriger Leiter einer ungarischen NGO zeichnete er die Genese der ungarischen Gesetzgebung um LGBTIQ+-Rechte nach: Unter dem Mantel des „gesunden“ Aufwachsens und des Kinderschutzes wird im ungarischen Jugendarbeits- und Bildungskontext jegliche Identität außerhalb einer heteronormativen Zuordnung im Namen der Menschenrechte kriminalisiert. Die EU und andere europäische Organisationen müssten achtgeben: „It is not only about governmental reporting on what citizenship education, democracy competence, entails in formal education, but relates to far more issues, e.g. LGBTQI, sexual health issues. Putting one issue on the agenda relates to consequences in multiple fields.“
An den diskutierten Beispielen wurde schnell deutlich, dass es oftmals gar keine direkte Einflussnahme in Systeme und Strukturen von Bildung und Jugendarbeit benötigt, um das Gerüst ins Wanken zu bringen. So ziehen beispielweise Veränderungen von rechtlichen Rahmenbedingungen im Gesundheitsbereich, im kulturpolitischen Sektor oder auch in Bezug auf allgemeines Steuerrecht, ernste Konsequenzen für die Bildungs- und Jugendarbeit nach sich – insbesondere im gemeinnützigen Bereich.
Bildung und Jugendarbeit – so ließ sich in der Diskussion herausarbeiten – sind eng verbunden mit Zivilgesellschaft und angewiesen auf starke Freiheits- und Grundrechtepolitik („shrinking spaces“). Die europäische Ebene (wie die EU-Kommission in ihrem Rechtsstaatlichkeitsbericht) sollte auf die Verknüpfung von Grundrechten und Konsequenzen für Bildungs- und Jugendarbeit ein verstärktes Augenmerk legen. Oftmals sind die zivilgesellschaftlichen Organisationen oder auch Akteure im formalen Bildungssektor nicht in der Lage, frühzeitig auf externe Veränderungen zu reagieren, da es oft sowohl an den speziell notwendigen Fähigkeiten wie auch Expertisen fehlt, wenn sie die Rolle als Grundrechteakteur*innen aktiv annehmen wollen.
Die verschiedenen Politiken, die relevant für das Aufwachsen sind (von Gesundheit bis Demokratiebildung), seien außerdem verwoben und diese Beziehungen sollten besser als educational dimension verstanden werden. In diesem Sinne müsste Anliegen europäischer Politik sein, die Bildungsprofession(en) zu stärken und zwar, indem die Breite ihrer Handlungsfelder und Expertisen in den Arbeitsfeldern berücksichtigt und konsequent unterstützt wird. Bildung und insbesondere die Profession der Bilder*innen sollte von der Begrifflichkeit im europäischen Kontext relativ weit verstanden werden. Hierbei haben zivilgesellschaftliche Organisationen eine Schlüsselrolle:
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