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Einführungsvortrag PD Dr. Claudio Franzius

Ist Ungarn überall?  Merkmale und Entwicklungen der Demokratiegefährdungen in Europa

AdB-Fachtagung "Freiheit, schöner Götterfunken - Demokratie und Demokratiegefährdung in Europa“ 27./28. November 2012, EJB Weimar

 

I. Worüber sprechen wir?

 

Wir sprechen über Demokratie, die es Europa nur als Mehrebenendemokratie geben kann. Halten wir zunächst fest: Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind Demokratien. Aber in dem Maße, wie die Union eigene Herrschaftsgewalt ausübt und unmittelbar auf die Bürger zugreift, kann sie sich nicht mehr allein über die Mitgliedstaaten demokratisch legitimieren. Sie bedarf eigener demokratischer Legitimation. Nun kann man lange darüber streiten, ob es eine europäische Demokratie überhaupt geben kann. Die europäischen Verträge haben die Frage in Art. 10 des Unionsvertrags beantwortet. Das, so meine ich, verdient ebenfalls festgehalten zu werden. Dort heißt es:

 

„Die Arbeitsweise der Union beruht auf der repräsentativen Demokratie. Die Bürgerinnen und Bürger sind auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten. Die Mitgliedstaaten werden im Europäischen Rat von ihrem jeweiligen Staats- oder Regierungschef und im Rat von ihrer jeweiligen Regierung vertreten, die ihrerseits in demokratischer Weise gegenüber ihrem nationalen Parlament oder gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft ablegen müssen.“

 

Diese Formulierung ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Aus ihr lässt sich entnehmen, dass das Intaktbleiben mitgliedstaatlicher Demokratien eine Voraussetzung europäischer Demokratie ist, aber auch, dass Schwächen mitgliedstaatlicher Demokratie ein europäisches Problem sind!

 

Damit ist über die Frage, wer für Demokratiegefährdungen verantwortlich ist, noch nichts gesagt. Und noch weniger entschieden ist damit die Frage, wer zum Schutz der Demokratie berufen ist. Müssen wir das den Ungarn überlassen? Sie haben ihre Regierung demokratisch gewählt. Verlangt dies nicht Respekt? Aber die ungarischen Staatsangehörigen sind auch Unionsbürger und die ungarische Verfassung auch eine europäische Frage. Wenn und weil die EU einen Teil ihrer Legitimation aus den Mitgliedstaaten bezieht, ist sie auf intakte Demokratien in den Mitgliedstaaten angewiesen. Oder anders gesagt: Will die Union demokratisch sein, können ihr die demokratisch verfassten Mitgliedstaaten nicht gleichgültig sein. 

Diese Frage zurückzustellen, könnte sich für Europa als verheerend erweisen. Wo es um den Erhalt einer freiheitlich-demokratisch verfassten Struktur in den Mitgliedstaaten geht, sehen die politischen Maßnahmen der Unionsorgane bislang eher dürftig aus und es entsteht eine gefährliche Schieflage, einerseits über die europäische Sparpolitik in der Staatsschuldenkrise demokratisch gewählte Regierungen aus dem Amt zu jagen, andererseits massiven Verschlechterungen der Grundrechtslage nicht nur am Rand (wie in der Ukraine), sondern im Herzen der EU (wie in Ungarn) tatenlos zuzusehen. Die Mitgliedstaaten sind aber nach dem europäischen Recht zur Wahrung der Menschenrechte verpflichtet und auch einem politischen Sanktionsmechanismus unterworfen. Wir werden jedoch sehen, dass dieser in Art. 7 EUV geregelte Mechanismus an strenge Voraussetzungen gebunden ist. Die bisherigen Erfahrungen lassen eine Zurückhaltung unter den Mitgliedstaaten und den Unionsorganen erkennen, auf diesem Wege die unliebsame Regierung eines Mitgliedstaats an den Pranger zu stellen.

 

II. Demokratiegefährdungen

 

Damit sind wir bei den Demokratiegefährdungen in Europa. Worin bestehen sie? Wenn es richtig ist, dass wir es in Europa mit einer Mehrebenendemokratie zu tun haben, dann liegt es nahe, auch für Gefährdungen der Demokratie die unterschiedlichen Ebenen in den Blick zu nehmen: 

 

1. Europa als Demokratiegefährdung?

 

Wenn wir uns beispielsweise anschauen, wie in der EU auf die Staatsschuldenkrise reagiert wird, dann sehen wir, dass Europa eine Reihe an Demokratiegefährdungen verursacht.

 

Das gilt nicht nur für die mitgliedstaatlichen Demokratien, sondern auch für die Unionsebene, wo die im Aufbau befindliche „Wirtschaftsregierung“ kaum als demokratisch bezeichnet werden kann. Während die Kommission mit ihren neuen Überwachungsbefugnissen, die nationalen Haushalte betreffend, nur unzureichend gegenüber dem Europäischen Parlament verantwortlich ist, kann der mit dem Fiskalvertrag geschaffene „Euro-Gipfel“ nur schlecht als eine Institution verstanden werden können, die auf dem langen Weg von den Regierungen zu den nationalen Parlamenten von den hier repräsentierten Staatsvölkern zur Verantwortung gezogen werden könnte.

 

2. Desinteresse, Apathie und Wiederkehr des Nationalismus

 

Wer das Herz der Demokratie im Nationalstaat erblickt, wird hinsichtlich der Erweiterungen des Modells auf die Unionsebene schnell Desinteresse und Apathie feststellen können. Ein kollektives Wir, dass weitreichende Entscheidungen auf Unionsebene zu tragen vermag, ist hier schlecht auszumachen. Eher lässt sich auf mitgliedstaatlicher Ebene eine Wiederkehr des Nationalismus beobachten. 

 

Das gilt nicht nur für Ungarn und diejenigen Mitgliedstaaten, die ihre soeben wiedergewonnene Souveränität nicht gleich wieder nach Europa abzugeben wünschen. Es gilt auch für solche Staaten, die sich entweder nie wirklich mit Europa anfreunden konnten oder die wegen ihrer Bevölkerungsgröße und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit besondere Verantwortung tragen. In der Staatsschuldenkrise ist bereits von „deutscher Hegemonie“ die Rede, verstanden als Ausdruck politischer Führung, die  bei den Unionsorganen vermisst wird. So entsteht ein Demokratiedefizit, wenn die Bundeskanzlerin in der Bewältigung der Euro-Krise auf zwischenstaatliche Lösungen setzt. Solche Lösungen lassen sich nur mit Mühe national rechtfertigen, entziehen sich aber einer Mitgestaltung und Kontrolle durch das Europäische Parlament.

 

3. Handfeste und schleichende Gefährdungen der Demokratie

 

Es gibt handfeste, aber auch schleichende Gefährdungen der Demokratie. Besorgniserregend ist die causa Ungarn. Doch hüten wir uns, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Auch Deutschland ist – ohne die langen Erfahrungen wie in Frankreich, England oder in den USA – kein Musterknabe der Demokratie.

 

a) Causa Ungarn

Zunächst zum Fall Ungarn. Es ist weitgehend Sache der Mitgliedstaaten, das politische System für die Bereitstellung kollektiver Güter zu definieren. Die EU schützt – wie an Artikel 4 Absatz 2 des Unionsvertrags deutlich wird – die Verfassungsautonomie ihrer Mitgliedstaaten. Auch die neue ungarische Verfassung genießt diesen Schutz, mag sie auch einen nationalistischen Anstrich erhalten haben, der die Mehrheitsverhältnisse unter der Regierung Orbán spiegelt. Demokratische Entscheidungen der Mitgliedstaaten hat die Union grundsätzlich zu respektieren. Darauf beruht ein Teil ihrer Legitimität. Aber die europäischen Demokratien können und dürfen nicht bloß als Ausdruck der Mehrheitsherrschaft verstanden werden, sie müssen auch einen ausreichenden Minderheitenschutz bereitstellen. In dem Maße, wie es der Minderheit erschwert wird, zur Mehrheit zu werden, kann von Demokratie keine Rede mehr sein. Abgesehen von vielen Problemen, die Europa mit dem ungarischen Patriotismus der autokratischen Regierungspartei Fidesz hat, liegt hier das Problem.

 

Es sind nicht bloß Einschüchterungen der Opposition und personalpolitische Entscheidungen, mit denen das „System“ Fidesz im gesellschaftlichen Leben dauerhaft verankert werden soll. Und es sind nicht allein umstrittene Gesetze, die – wie zum Beispiel das viel diskutierte Mediengesetz – mit europäischen Menschenrechten kollidieren. Neben dem Versuch, die politische Kontrolle über die Medien, die Justiz und das Wahlsystem zu etablieren, sind vor allem Regelungen problematisch, mit denen sichergestellt werden soll, dass auch bei veränderten Mehrheiten in Zukunft die politischen Entscheidungen der Regierung nicht rückgängig gemacht werden können. Diese Versteinerung der politischen Verhältnisse über die Legislaturperiode hinaus macht den nationalen Konstitutionalismus à la Ungarn zum Problem für den europäischen Konstitutionalismus.

 

Am Beispiel der Medienfreiheit wird das Problem virulent. Die Demokratie steht auf dem Spiel, wenn Unionsbürger ihre Meinung in den Mitgliedstaaten nicht mehr frei ausdrücken oder sich durch unabhängige Medien informieren können. Dies gilt umso mehr, als sich die Demokratie in Europa mit guten Gründen auf die Sicherung individueller Rechte stützt. Ohne den effektiven Schutz der Unionsbürgerrechte in den Mitgliedstaaten ist eine transnationale Demokratie nicht möglich. Das ist zumindest die deutsche Erfahrung. Und deshalb kann in den europäischen Sicherungen der grundlegenden Unionsbürgerrechte eine Bedingung für den politischen Wandel gesehen werden, der von den politischen Kräften vor Ort zu verantworten ist.

 

b) Deutschland: Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht

Doch schauen wir uns die Situation in Deutschland an. Den Schutz der Demokratie übernimmt eine Institution, deren eigene Rechtfertigung kaum in Frage gestellt wird. Gemeint ist das Bundesverfassungsgericht, das im Nachkriegsdeutschland einen wesentlichen Beitrag zum Aufbau der Demokratie geleistet hat. Inzwischen versucht das Gericht aber, so scheint es, die nationale Demokratie nicht bloß mit der Sicherung der Haushaltsverantwortung des Deutschen Bundestags gegenüber der Bundesregierung, sondern auch allgemein mit der Behauptung integrationsfester Primärräume gegenüber europäischen Zumutungen sichern zu wollen. Darin liegt insofern eine Demokratiegefährdung, als mit einer extensiven Interpretation der „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG bestimmte Politikfelder dem Zugriff des verfassungsändernden Gesetzgebers, damit aber auch den politischen Auseinandersetzungen im Alltag entzogen sind. Das große Vertrauen, das in Deutschland dem Gericht entgegengebracht wird, nutzt dieses, um hinter den breiten politischen Konsens in europäischen Angelegenheiten unverrückbare verfassungsrechtliche Fragezeichen zu setzen. Geht es der Demokratie um das Offenhalten des politischen Prozesses, kann die Argumentation des Gerichts nicht überzeugen. Dass auch Gerichte lernfähig sind, hat das Bundesverfassungsgericht im jüngsten Urteil zum ESM- und Fiskalvertrag bewiesen. Hier wird anders als im Lissabon-Urteil auf jede Souveränitätsromantik verzichtet und die besondere Verantwortung der politischen Organe hervorgehoben.

 

c) Europäische Antworten als transnationale Problemlösungen

Europa demokratischer zu machen, setzt nicht die Schaffung eines europäischen Bundesstaates voraus. Demokratiegefährdungen, die es auf „supranationaler“ Ebene ja durchaus gibt, lässt sich kaum dadurch begegnen, dass eine zentrale Instanz geschaffen wird, die das demokratische „Eigenleben“ der Mitgliedstaaten untergräbt. Das nährt Zweifel an der Forderung nach mehr Europa. 

 

Mehr Europa kann es nur mit, nicht gegen den Willen der mitgliedstaatlichen Demokratien geben. Die Bürger Europas haben, um es mit Jürgen Habermas zu sagen, gute Gründe dafür, dass der jeweils eigene Nationalstaat in der Rolle des Mitgliedstaates weiterhin die konstitutionelle Rolle eines Garanten von Recht und Freiheit spielt.* Aber diese Rolle ist keine exklusive Rolle, die gegen Europa ins Feld geführt werden könnte. Der Staat teilt sich die Rolle eines demokratiesichernden Garanten mit den Unionsorganen, die unterstützend tätig werden. Insoweit müssen europäische Antworten auf Demokratiegefährdungen transnationale Problemlösungen sein. 

 

III. Sicherungen der Demokratie

 

1. Optionen

 

Bei der Antwort auf die Frage, wie systemischen Risiken für die Demokratie in Europa begegnet werden sollte, gilt es unterschiedliche Optionen in den Blick zu nehmen. Zu unterscheiden ist zwischen

 

  • kurzfristigen und langfristigen Maßnahmen: Die Kommission begnügt sich mit dem traditionellen Vorgehen, punktuell Vertragsverletzungen zu rügen. Langfristig ausgelegte Strategien zum Schutz der mitgliedstaatlichen Demokratien sind demgegenüber nicht ersichtlich.
  • Zu unterscheiden ist auch zwischen bestehenden und gegebenenfalls neuen Verahren der Demokratiesicherung. Die EU als nicht-hierarchische Ordnung basiert auf der freiwilligen Befolgung des europäischen Rechts. Nicht Zwang, sondern die wechselseitige Anerkennung der Rechte und Pflichten ist die Grundlage des europäischen Projekts. Das spricht dafür, weiterhin auf dezentrale Mechanismen der Rechtsdurchsetzung zu setzen, um die Selbstbefähigung mitgliedstaatlicher Institutionen zur Formulierung einer europäischen Perspektive zu stärken. Erst das erlaubt es, die europäischen Werte nicht als fremde, sondern als die eigenen Werte zu akzeptieren.
  • Unterschieden werden sollte auch zwischen idealistischen Konzeptionen und realistischen, praktisch belastbaren Vorschlägen, die sich der Grenzen des Integrationsprojekts bewusst bleiben: Gerade weil die Eigenlegitimation unionaler Herrschaftsgewalt nicht staatsanalog konstruiert werden kann, die EU vielmehr auf funktionierende politische Systeme in den Mitgliedstaaten angewiesen bleibt, müssen Vorschläge die besondere spezifische Verbundstruktur mit der Verzahnung der Ebenen im Blick behalten.
  • In diesem Zusammenhang ist die Frage wichtig, wer zum Schutz der Demokratie berufen sein soll. Soweit individuelle Rechte in Frage stehen, wird den Gerichten eine besondere Verantwortung für die Wahrung der Grund- und Menschenrechte nicht abgesprochen werden können. Das gilt für nationale wie für europäische Gerichte. Zwar lässt sich die strukturelle Schwäche politischer Maßnahmen nur begrenzt durch juristische Lösungen kompensieren, zumal die Rechtsprechung der europäischen Gerichte von einer Zurückhaltung gegenüber dem politischen Prozess geprägt ist. Warum wir diesen Weg nicht gleich verwerfen sollten, möchte ich im folgenden begründen.

 

2. Wege aus der Krise

 

a) Maßstab

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass politische Lösungen zu suchen sind. Doch offensichtlich gelingt es den in der EVP im Europäischen Parlament verbundenen konservativen Parteien nicht, auf die Regierung Orbán wirksam Einfluss zu nehmen. Vor allem Deutschland und der CDU sowie der sich von der „nationalen Revolution“ in Ungarn nicht hinreichend distanzierenden CSU kommt hier eine besondere Verantwortung zu, die ungarische Regierung vor dem Abgleiten in einen die europäischen Grundwerte systematisch missachtenden Nationalismus zu bewahren. 

 

Denn es ist eine Sache, sich unter Berufung auf die Freiheitsliebe des ungarischen Volkes auf einen konsequenten Anti-Kommunismus zu berufen und von der reformierten Verfassung von 1989 nichts mehr wissen zu wollen. Eine ganz andere Sache ist es, die nationale Politik über das Unionsrecht zu stellen, um aus vermeintlichen EU-Diktaten populistisch Kapital zu schlagen. So ist es nicht hinzunehmen, frühere Regierungsmitglieder wegen der gestiegenen Staatsverschuldung unter dem Erlass rückwirkender Gesetze eines „politischen Verbrechens“ zu bezichtigen und ins Gefängnis zu werfen. Der Satz „keine Strafe ohne Gesetz“ ist ein europäischer Rechtssatz, der durch einen kruden Nationalismus nicht überspielt werden kann und über dessen Einhaltung die EU und ihre Mitgliedstaaten zu wachen haben. In vielem scheint Osteuropa manchen Entwicklungen in Russland näher zu stehen als es Europa lieb sein kann. 

 

Worum es angesichts der Demokratiegefährdungen in den Mitgliedstaaten geht, ist weniger „von außen“ auf den politischen Wechsel zu drängen als vielmehr innerstaatliche Problemlösungen zu aktivieren. Maßstab sind die Grundwerte der Europäischen Union, formuliert in Artikel 2 des Unionsvertrags. Danach sind die Werte, auf die sich die Union gründet, die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte, so heißt es weiter, sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet. 

 

Es verdient festgehalten zu werden, dass hierdurch nicht nur die Union, sondern auch die Mitgliedstaaten gebunden werden. Das ist zwar eine wesentlich abstraktere Bindung als zum Beispiel die Bindung an die Menschenrechte, wie sie durch die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert werden. Sie ist auch grobmaschiger als die Bindung an die Unionsgrundrechte der Grundrechte-Charta. Aber diese Bindung ist eine Grenze für nationalistische Politik und diese Grenze kann von den Betroffenen für „eigenmotivierte“ Sicherungen der Demokratie aktiviert werden. Im Sinne für ein Offenhalten des politischen Wandels oder – wie es die Opposition in Ungarn fordert – für eine neue politische Kultur.

 

b) Drohende Verletzung der Grundwerte

Das „System Fidesz“ zeichnet sich dadurch aus, eine bestimmte Verfassungskultur zu zementieren: Problematisch sind vor allem die so genannten Schwerpunktgesetze, deren Änderung eine Zweidrittelmehrheit erfordert. Solche Gesetze erhalten damit Quasi-Verfassungsrang und werden gegenüber einem Wechsel der politischen Mehrheiten immunisiert. Die Venedig-Kommission des Europarates hebt hervor, dass Ungarn zwar grundlegende demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien einhalte, kritisiert aber die Schwächung des Verfassungsgerichts, die übermäßige Anwendung der Schwerpunktgesetze, die unscharfe Definition der Pressefreiheit und der Minderheitenrechte sowie die zu offene Beschreibung des Verhältnisses zu den im Ausland lebenden ungarischen Minderheiten. 

Die Liste der kritisierten Punkte ließe sich verlängern, etwa mit der vagen Bezugnahme der Präambel auf die „historische Verfassung“ Ungarns als Rechtsmaßstab und den Ausschluss der in Ungarn lebenden Minderheiten aus der ungarischen Nation. Die Lage wird besonders deutlich, nimmt man die Reaktionen von Mitgliedern der Fidesz-Partei in den Blick: Diese verbitten sich „Einmischungen von außen“ und gehen damit in Distanz zu jener Offenheit, die einen Mitgliedstaat der Europäischen Union im Kern ausmacht. Ob in der Summe die Schwelle zu einer Verletzung der Grundwerte überschritten ist, bleibt allerdings unsicher. Umso dringender ist es, sich der Reaktionsmöglichkeiten auf eine demokratische Praxis zu vergewissern, die als nationalistisch-introvertiert den europäischen Grundwerten in der Tendenz widerspricht.

 

c) Die große Bazooka: Artikel 7 EUV

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Europäischen Union, dass ihre Grundwerte in Art. 2 EUV abstrakt formuliert, deren Durchsetzung mit der „großen Bazooka“ des Art. 7 EUV aber an ein kompliziertes Verfahren gebunden sind. Verlangt wird die Feststellung einer „schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung“ der Grundwerte durch einstimmige Entscheidung im Europäischen Rat. Der mögliche Entzug der Stimmrechte im Rat knüpft an strenge, einem Militärputsch vergleichbare Voraussetzungen an, würde in der causa Ungarn indes auf wackligen Füssen stehen. Keine der von der Regierung Orbán durchgeführte oder geplante Maßnahme als solche dürfte diese Hürde unzweifelhaft erreichen. Fehlende oder schlechte Erfahrungen mit dem Artikel 7 Mechanismus drohen Ankündigungen dieses Verfahrens ins Leere laufen zu lassen.

 

Dennoch kann und darf die EU nicht einfach wegschauen, wenn es infolge der Kumulation einer Vielzahl von einzelnen Maßnahmen mit dem Ziel, die politischen Verhältnisse des Systems Fidesz „unangreifbar“ zu machen, zu einer schleichenden Herabsenkung der rechtsstaatlich-demokratischen Standards kommt. Systemische Risiken, wozu die Festschreibung einer unter den gegenwärtig bestehenden Mehrheitsverhältnissen existierenden „Verfassungskultur“ gehört, berühren, wird sie dem politischen Wandel entzogen, die nach Art. 2 EUV allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundwerte der Demokratie. Politische Sanktionen nach Art. 7 EUV bleiben aber einem erhöhten Risiko ausgesetzt, das an Schwierigkeiten beim Erlass von UN-Sicherheitsresolutionen erinnert: Die Zustimmung nationalistisch eingestellter Regierungen für ein gemeinsames Vorgehen gegen Ungarn wird kaum einfach unterstellt werden können.

 

d) Grenzen politischer Lösungen 

Es muss als fraglich angesehen werden, ob sich eine machtbewusste Regierung, die sich der Kooperation mit den Unionsorganen entzieht, durch die Drohkulisse des soeben geschilderten Sanktionsverfahrens beeindrucken lässt. Den Ausschluss des betreffenden Mitgliedstaates sieht das Verfahren nicht vor. Seine Bedeutung liegt in der präventiven Funktion, die Abkehr von den gemeinsamen Werten zu verhindern. Es verdeutlicht, dass der Anspruch des Mitgliedstaates auf die Wahrung seiner Verfassungsidentität nach Art. 4 Abs. 2 EUV unter dem Vorbehalt der Einhaltung der grundlegenden Werte des Art. 2 EUV steht.

 

Zumindest für den Schutz individueller Rechte könnte sich ein umgekehrter Solange-Vorbehalt anbieten.** Was ist damit gemeint? Das „Solange-Argument“ ist ein zentraler Konfliktlösungsmechanismus, mit dem das Bundesverfassungsgericht die Überprüfung europäischer Hoheitsakte am Maßstab der deutschen Grundrechte zurücknimmt, solange auf europäischer Ebene ein hinreichender Grundrechtsschutz generell gewährleistet ist. Angesichts der prekären Situation von Minderheiten und Migranten, aber auch der wachsenden Gefährdungen der Medienfreiheit im europäischen Rechtsraum wäre zu bedenken, die berühmte Solange-Doktrin in umgekehrter Stoßrichtung auf die Mitgliedstaaten anzuwenden: Was bedeutet das? Nun, es wüde bedeuten, dass sich Unionsbürger solange nicht auf die Unionsgrundrechte berufen können, solange die Vermutung gilt, dass der Wesensgehalt der Grundrechte, wie er durch Art. 2 EUV garantiert wird, im betreffenden Mitgliedstaat gewährleistet ist. Es handelt sich jedoch um eine widerlegbare Vermutung. Sollten schwerwiegende Rechtsverstöße die Vermutung widerlegen, wäre der Kernbereich der Unionsbürgerschaft mit der Folge eröffnet, dass auch allein innerstaatliche Sachverhalte mit einem europäischen Argument vor Gericht gebracht werden könnten. Das wäre ein Rettungsschirm für die Grundrechte und Demokratie.

 

e) Ein Rettungsschirm für die Demokratie? 

Über die Vor- und Nachteile eines solchen Rettungschirms lässt sich streiten. Die Wahrung individueller Rechte in die Hände von Gerichten zu legen, entspricht gemeineuropäischer Tradition, wenngleich die Rechtsprechung in der Verknüpfung der Grundrechte mit dem Institut der Unionsbürgerschaft bislang eher zurückhaltend ist. Auch die erhebliche Ausdehnung, welche die zur Staatsangehörigkeit hinzutretende Unionsbürgerschaft in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs erfahren hat, stößt auf Kritik, kann die judikative Sicherung individueller Rechte doch nicht politische Auseinandersetzungen über den Fortgang der Integration ersetzen. Und es ist ja richtig: Der Grundrechtsschutz kann demokratische Prozeduren, mögen sie noch so schwerfällig sein, nicht einfach kompensieren. Jedoch ist die europäische Demokratie ohne die hinreichende Sicherung der Menschenrechte in den Mitgliedstaaten gefährdet. Erinnern wir uns: Die europäische Demokratie wird nicht von einem homogenen Kollektiv, sondern von den Bürgerinnen und Bürgern getragen.

 

Ich gebe zu: Die Einwände gegen den „umgekehrten Solange-Vorbehalt“ sind erheblich.*** Wird, so ist zu fragen, nicht erneut eine Schwäche im politischen System durch eine juristische Konstruktion zu überspielen versucht? Stößt nicht gerade die Rechtsprechung an Funktions- und Leistungsgrenzen? Benötigen wir in Europa nicht mehr Politik, verstanden als die Vermittlung kollektiver Legitimation, die sich nicht einfach durch die Maximierung individueller Legitimation erreichen lässt? Mit der Sicherung der grundlegenden Rechte des Einzelnen ist es allein nicht getan. Es bedarf der Bereitstellung demokratische Legitimation erzeugender Verfahren. 

 

Was aber, wenn es den politischen Organen nicht gelingt, massiven Grundrechtsverletzungen in den Mitgliedstaaten entgegenzutreten? Soweit die Europäische Kommission auf den beschränkten Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte hinweist, welche die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung von Unionsrecht“ binden, ist das zur Vermeidung einer „Hochzonung“ des Grundrechtsschutzes verständlich, aber nur begrenzt zutreffend. Zum einen deshalb, weil die Mitgliedstaaten außerhalb des Anwendungsbereichs der Charta zur „Wahrung der Menschenrechte“ verpflichtet sind, zum anderen aber auch, weil nicht ersichtlich ist, warum diese Verpflichtung allein durch das in Art. 7 EUV genannte Verfahren durchgesetzt werden müsste. Gravierende, den Wesensgehalt der Grundrechte betreffende Verletzungen tangieren den grundlegenden Status der Bürgerinnen und Bürger im europäischen Rechtsraum. Und dieser „Kernbestand“ des Unionsbürgerstatus umfasst nach der Rechtsprechung des EuGH auch innerstaatliche Sachverhalte, erfasst also die Ausübung nationaler Hoheitsgewalt unabhängig von einem grenzüberschreitenden Bezug.

 

Zwar ist der Maßstab eines „Kernbestands von Statusrechten“ ebenso vage wie der durch Art. 2 EUV erfasste grundrechtliche Wesensgehalt in der Bindung der Mitgliedstaaten. Der Rechtsprechung käme ein weiter Interpretationsraum zu, der mit guten Gründen der Politik im Verfahren nach Art. 7 EUV vorbehalten sein könnte. Da jedoch Art. 2 EUV jede Ausübung öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten bindet, ist hier kein Übergriff auf die Verbandskompetenzen der Mitgliedstaaten zu besorgen. Art. 7 EUV entfaltet als politisches Verfahren keine Sperrwirkung gegenüber der judikativen Sicherung der grundlegenden Unionsbürgerrechte, die, soweit sie systematisch verletzt werden und den Unionsbürgerstatus seiner praktischen Wirksamkeit berauben, nicht dem Belieben der politischen Organe ausgesetzt sein dürfen.

 

Nicht jede Grundrechtsverletzung widerlegt die Vermutung, dass der Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen aus Art. 2 EUV nachkommt. Es müssen im System des jeweiligen Mitgliedstaates angelegte und von diesem nicht durch einfache Korrekturen zu beseitigende Einschränkungen des Wesensgehalts der Menschenrechte sein. Es spricht vieles dafür, dass in solchen Konstellationen die aus dem Unionsbürgerstatus resultierenden Rechte in ihrem Kernbestand betroffen sind. 

 

Gelingt es, die Vermutung für die Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte zu widerlegen, kann sich der Einzelne vor dem nationalen Gericht auf den Kernbestand der Unionsbürgerschaft berufen. Das schließt den europäischen Durchsetzungsmechanismus ein. Insbesondere folgt daraus das Recht oder die Pflicht des nationalen Gerichts, entsprechende Fragen der Auslegung dem Gerichtshof zur so genannten Vorabentscheidung vorzulegen. Die Vorlage nationalverfassungsrechtlich determinierter Fragen ist zwar keine durchgängige Praxis nationaler Höchstgerichte, wie sich auch an der bisherigen Nichtvorlagepraxis des Bundesverfassungsgerichts zeigt. Würde aber darauf verzichtet, hätte es jeder Mitgliedstaat in der Hand, die Inhalte des Art. 2 EUV nach eigener Interpretation zu definieren und damit auszuhebeln. 

 

IV. Dezentraler Demokratieschutz

Vorzugswürdig sind dezentrale Mechanismen, die, wie der umgekehrte Solange-Vorbehalt, mitgliedstaatlichen Institutionen in kritischen Situationen „Rückendeckung“ gewähren. Damit ich nicht missverstanden werde: Die über das Vorlageverfahren institutionalisierte Kooperation der Gerichte kann den politischen Prozess nicht ersetzen. Insoweit unterscheidet sich die Situation von der Frühphase der Integration, die maßgeblich durch den Aufbau der Rechtsgemeinschaft geprägt war. Politische Probleme bedürfen einer politischen Lösung und kurzfristig wird von einer gerichtsnahen Lösung wenig erwartet werden können. Jedoch ist das politische System der EU auf innerstaatliche Gefährdungen der Demokratie nicht richtig eingestellt. Zumeist beschränkt sich Kritik der Unionsorgane auf Bereiche, wo unmittelbar europarechtliche Belange berührt sind. Deshalb ist die Stärkung der Selbstbefähigung der Bürgerinnen und Bürgern, ihre Angelegenheiten als europäische Angelegenheiten vor die Institutionen des Heimatstaates zu bringen, ein wichtiger Modus, um politische Lösungen zu ermöglichen.****

 

Die Hauptverantwortung für die Sicherung individueller Rechte und demokratischer Offenheit liegt bei den nationalen Gerichten und der mitgliedstaatlichen Politik. Das bedeutet aber nicht, dass ein subsidiäres Sicherheitsnetz für den Fall systemischer Gefährdungslagen europäischer Grundwerte für entbehrlich gehalten werden könnte, damit der betreffende Mitgliedstaat unter einen europäischen Rettungsschirm für Grundrechte und Demokratie treten kann. Sicherlich wird kein Urteil das Demokratieproblem bei der Wurzel packen können und nochmals sei betont, dass ein effektiver Grundrechtschutz eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Demokratie in Europa darstellt. Mit Blick auf Ungarn wäre es aber falsch, alle staatlichen Institutionen auf einem antieuropäischen Weg zu wähnen. 

 

Zwar mögen sich nationale Gerichte den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs nicht immer unterordnen. Aber das ist im konstitutionellen Pluralismus hinzunehmen. Das ungarische Verfassungsgericht lässt sich bislang nicht auf die Linie des Systems Fidesz bringen, wie es mit dem Beschluss zur Verfassungswidrigkeit des umstrittenen Mediengesetzes gezeigt hat. Warum diesen Mut nicht europäisch unterstützen? Warum das Schicksal der europäischen Demokratie nicht in die Hände der Unionsbürgerinnen legen, die in ihrem Mitgliedstaat über Rechte verfügen, um das Abgleiten in einen übersteigerten Nationalismus zu verhindern? 

 

Das wäre ein europäischer Weg, der politische Lösungen nicht ersetzt, aber ein wechselseitiges Wegschauen der Mitgliedstaaten und Unionsorgane unter Rechtfertigungsdruck bringt und ein Sicherheitsnetz für den Fall bereitstellt, dass sich Krisen verschärfen, politische Lösungen aber scheitern.

 

PD Dr. Claudio Franzius ist Dr. iur., Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin. Gastwissenschafter am Sonderforschungsbereich „Staatlichkeit im Wandel“ an der Universität Bremen.

 

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* Habermas, Zur Verfassung Europas, Berlin (Suhrkamp), 2011, S. 49, 72.

** Armin v. Bogdandy u.a., Ein Rettungsschirm für europäische Grundrechte, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. 72 (2012), S. 45 ff.

*** Lesenswert die Debatte im Verfassungsblog, vgl. www.verfassungsblog.de (15.2.2012).

**** Näher Claudio Franzius/Ulrich K. Preuß, Die Zukunft der europäischen Demokratie, Baden-Baden (Nomos), 2012.