“Demokratie
braucht
politische Bildung”

Plädoyer für eine eigenständige Mädchen- und Frauenbildung als Bestandteil politischer Bildung (Berlin)

21.11. 2011

In Zeiten von Gender Mainstreaming scheinen sich spezifische Angebote für Frauen und Mädchen überholt zu haben. Die Zahl von Kursen, Seminaren und Projekten für Mädchen und Frauen ist rückläufig, Modellprojekte und Strukturen wurden und werden abgebaut. Parallel dazu suggeriert die öffentliche Diskussion einen akuten Nachholbedarf der Jungen, die als „Bildungsverlierer“ in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden.

 

Der Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten, Fachverband der politischen Bildung in Deutschland, vertritt vor diesem Hintergrund die Auffassung, dass spezifische Angebote der Mädchen- und Frauenbildung nach wie vor gesellschaftlich notwendig sind und damit auch notwendiger Bestandteil der außerschulischen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung sein müssen.

Entwicklung und aktuelle gesellschaftliche Debatte

Aus der Nische heraus ins Zentrum! Mädchen sichtbar werden zu lassen und ihnen eine Stimme zu verleihen, war eine zentrale Aufgabe und Forderung der Pädagoginnen in den 80er Jahren. Die Pionierinnen der Mädchenarbeit und Mädchenpolitik kämpften für selbstbestimmte, geschlechtshomogene Zentren, um mädchenspezifische Bedürfnisse und Themen in „herrschaftsfreien“ Räumen zu thematisieren. Die Enttabuisierung der Gewalterfahrungen von Mädchen und Frauen spielte dabei eine wichtige Rolle.

 

Die Entwicklung von Leitlinien zur Förderung feministischer Mädchenarbeit und die Integration der parteilich-feministischen Mädchenarbeit in Jugendhilfe und Jugendbildung waren Forderungen und Aufgaben in den 90er Jahren. Nachdem sich in den Folgejahren die Mädchen- und Frauenarbeit etabliert und professionalisiert hatte und es einen gesellschaftlichen Konsens über die Notwendigkeit spezieller (Bildungs-) Angebote für Mädchen und Frauen gab, scheinen aktuell diese Angebote nicht mehr gebraucht oder nicht mehr gewollt zu werden.

 

Die aktuell geführte Debatte zeichnet ein eindeutiges Bild: Mädchen und junge Frauen heute haben es geschafft. Sie sind die „Bildungsgewinnerinnen“, werden als „Alpha-Mädchen“ bezeichnet und gehören zum „starken Geschlecht“. Sie sind gebildet, klug und selbstbewusst, dadurch stehen ihnen vor allem beruflich alle Möglichkeiten offen. Und sie sind clever genug, diese Möglichkeiten auch zu nutzen. Jungen und junge Männer werden als „Bildungsverlierer“ beschrieben. Sie gehören mittlerweile zum „schwachen Geschlecht“, sie sind die „Sorgenkinder“, die im Schatten der leistungsfähigeren Mädchen stehen.

 

Dieser Benachteiligungsdiskurs über Jungen steht im Kontext der allgemeinen Bildungsdebatte und beeinflusst Politik und die politische Gestaltung von Gesellschaft. Aber, so ist kritisch anzumerken: Die Medien zeichnen ein eindimensionales Bild von „den“ Mädchen und „den“ Jungen, die es in dieser Eindeutigkeit nicht gibt. Der starken Ausdifferenzierung und Komplexität gesellschaftlicher Wirklichkeit und der Vielfalt der Lebenswelten von Jungen und Mädchen wird diese Diskussion in keiner Weise gerecht.

 

Das Bundesjugendkuratorium hat in seiner Stellungnahme „Schlaue Mädchen – Dumme Jungen? Gegen Verkürzungen im aktuellen Geschlechterdiskurs“ herausgearbeitet, dass „eine Diskrepanz feststellbar [ist] zwischen der zunehmenden Thematisierung von als problematisch empfundenen Phänomenen (häufig betont werden etwa schlechteres Abschneiden bei schulischen Leistungen oder jugendkulturelle Auffälligkeiten) und dem Fehlen entsprechender theoretischer und empirischer Studien, die einen fundierten Interpretationshintergrund für diese Phänomene bieten könnten.“

Komplexität statt einfacher Lösungen

Die Ungleichheiten, die es bei der Bildungsbeteiligung und dem Bildungserfolg von Mädchen und Jungen gibt und die auch empirisch belegt sind, sind jedoch nicht monokausal durch Geschlechtszugehörigkeit zu erklären. Sie werden im Zusammenwirken mit anderen Benachteiligungsfaktoren wirksam. Dazu gehören vor allem Faktoren wie soziale Herkunft, ethnische Zugehörigkeit, kultureller Kontext, sexuelle Orientierung, auch lokale und regionale Differenzen im Bildungsangebot. Innerhalb dieser Differenzkategorien erzeugt die Geschlechtszugehörigkeit wiederum hierarchische Unterschiede.

 

Zudem fehlt – auch wenn Mädchenarbeit und Frauenpolitik akzeptiert scheinen – in allen gesellschaftlichen Bereichen eine durchgängige Geschlechterperspektive:

Trotz aller Diskussionen und Modelle um die Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie sind nach wie vor die sozialen Sicherungssysteme auf eine männliche Normalbiographie zugeschnitten.
Trotz aller Kampagnen und Beratungs- und Hilfsangebote rund um das Thema Gewalt gegen Mädchen und Frauen fehlt eine Reflexion der von der Gesellschaft produzierten Gewaltverhältnisse, die auf Mädchen und Jungen unterschiedliche Auswirkungen haben.
Trotz aller Modernisierungsansprüche, Gleichstellungspolitiken und Förderprogramme ist die tatsächliche Partizipation von Mädchen und Frauen im Arbeitsleben, in Politik und Öffentlichkeit nach wie vor nicht verwirklicht.

 

Einige Zahlen, die dies verdeutlichen: Von den Ausbildungsanfängerinnen starteten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes über die Hälfte in nur zehn Ausbildungsberufen; der geschlechtsbezogene Einkommensunterschied in Deutschland beträgt aktuell 23 Prozent und liegt damit deutlich über dem europäischen Durchschnitt; der Anteil von Frauen in Führungspositionen ist mit 27 Prozent in der Privatwirtschaft unterdurchschnittlich; Frauen haben ein mehr als doppelt so hohes Risiko wie Männer, niedrig entlohnt zu werden. (Zahlen BMFSFJ)

Anforderungen an die politische Bildung für Mädchen und Frauen

Aufgrund der kritischen Analyse des aktuellen Diskurses, der gewachsenen Komplexität, des Zusammenwirkens verschiedener Benachteiligungsfaktoren und der Verpflichtung, positive Entwicklungsbedingungen für alle Mädchen und Frauen zu schaffen, kommt der Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten zu dem Schluss, dass die Anforderungen an die Frauen- und Mädchenarbeit sich verändert haben, die Notwendigkeit spezifischer Angebote allerdings weiterhin besteht. Aus diesem Grund setzt sich der AdB für eine politische Bildungsarbeit für Mädchen und Frauen ein,

  • die die unterschiedlichen Gruppen von Mädchen und Frauen und deren verschiedene Ausgangslagen, Interessen und Bedürfnisse in den Blick nimmt und zielgruppengenaue Konzepte entwirft, stetig überprüft und weiterentwickelt;
  • die die unterschiedliche Historie, die unterschiedlichen Erfahrungen und Lebenswelten von Mädchen und Frauen berücksichtigt;
  • die durch geschlechtshomogene Angebote Freiräume für Mädchen und Frauen schafft, in denen Platz ist für eigene Themen, Perspektiven und Vorstellungen;
  • die in geschlechtergemischten Institutionen und Einrichtungen Personen, Räume und Ressourcen für Mädchen wie für Jungen anbietet und die eine „Entdramatisierung“ von Geschlecht sowie eine kritische Reflexion von geschlechterrelevanten Aspekten ermöglicht;
  • die Möglichkeiten bietet, geschlechtsspezifische Sehgewohnheiten zu hinterfragen und rollenkonforme Prägungen und Einstellungen zu prüfen
  • die Geschlechterdifferenzen nicht als gegebene, sondern als veränderbare und veränderliche und gesellschaftlich immer wieder neu hergestellte Unterscheidungen aufzeigt;
  • die die spezifische Perspektive von Mädchen und Frauen auf Themen wie Chancengerechtigkeit, Ausgrenzung, Gewalt, Sexualität, Diskriminierung, Diversität etc. in den Mittelpunkt von Angeboten stellt;
  • die die zentralen Kategorien von Politik wie Macht, Herrschaft, Interesse, Willensbildung, Konflikt und Konsens aus Sicht und Perspektive von Mädchen und Frauen darstellt, hinterfragt und bearbeitet;
  • die Frauen und Mädchen befähigt und ermutigt, sich aktiv in Politik und Gesellschaft einzubringen und ihre Anliegen zu vertreten.

Anforderungen an Politik und Gesellschaft

Mädchen- und Frauenbildung ist ein eigenständiges Arbeitsfeld, das kooperierend und vernetzend arbeitet. Es braucht die Unterstützung der Träger politischer Bildung sowie der Verantwortlichen in Politik und Verwaltung, insbesondere

  • eine differenzierte politische und öffentliche Debatte um die Bildungsteilhabe und die Bildungserfolge von Mädchen und Jungen, Frauen und Männern
  • eine Sensibilisierung aller Akteure/Akteurinnen und politisch Verantwortlichen für Ungleichheiten und die Ermutigung zum Abbau von Diskriminierungen
  • die Entwicklung und Förderung differenzierter pädagogischer Konzepte, um den individuellen Bedürfnissen und Lebenslagen von Frauen und Mädchen gerecht zu werden;
  • sowohl ideelle Unterstützung als auch ausreichend finanzielle Förderung von Angeboten für Mädchen und Frauen;
  • den sofortigen Stopp des Strukturabbaus und die ausreichende Förderung von Strukturen und Einrichtungen der Mädchen- und Frauenbildung;
  • Fortbildungsangebote für alle in der Jugend- und Erwachsenenbildung Tätigen, um den veränderten Anforderungen an eine qualifizierte Mädchen- und Frauenbildungsarbeit gerecht zu werden;
  • Gelegenheiten und Begegnungsorte für alle in der Mädchen- und Frauenbildung Tätigen, um den Austausch und die Vernetzung untereinander zu ermöglichen und den Dialog auch zwischen den Generationen zu fördern.

Nach Überzeugung des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten ist und bleibt Mädchen- und Frauenbildung notwendiger und wichtiger Bestandteil politischer Bildungsarbeit, der entscheidend mit zur Gleichberechtigung und Geschlechtergerechtigkeit beiträgt. Aus diesem Grund wird sich der AdB auch zukünftig für eine eigenständige, zielgruppenspezifische, qualifizierte Mädchen- und Frauenbildungsarbeit einsetzen.

 

Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten, November 2011