“Demokratie
braucht
politische Bildung”

Superspreading Ideen aus der Lockdown-Erfahrung: Außerschulische politische Bildung als Impfstoff gegen rassistische Kategorien, Lupe zur Analyse aktueller gesellschaftlicher Diskurse und sozialisationsrelevanter Wert

Bericht der Fachgruppe "Flucht und Migration"
Programm Politische Jugendbildung im AdB

Fünf Tage nach dem rassistischen Anschlag in Hanau und drei Monate vor der Tötung von George Floyd durch rassistische Polizeigewalt, fand Ende Februar 2020 die Zentrale Arbeitstagung "Politische Jugendbildung des AdB" statt, deren inhaltlicher Schwerpunkt von der Projektgruppe "Flucht und Migration" bestimmt, konzipiert und umgesetzt wurde. Damals ahnte noch niemand, dass es für eine längere Zeit die letzte Möglichkeit zur gemeinsamen Arbeit in Präsenz sein sollte. Im Fokus standen der diskriminierungskritische Blick auf die eigene Arbeit.

Kamera läuft. Und Action! – Erklärfilme, die das Ankommen erleichtern, Foto: Internationale Bildungsstätte Jugendhof Scheersberg
Kamera läuft. Und Action! – Erklärfilme, die das Ankommen erleichtern Foto: Internationale Bildungsstätte Jugendhof Scheersberg

 

Bildung is‘ uncool oder was?

Ziel der Zentralen Arbeitstagung (ZAT) war es, die Auseinandersetzung der Jugendbildungsreferent*innen mit diskriminierungskritischen Perspektiven in Bezug auf die eigene Arbeit zu erweitern. Verschiedene Aktivitäten zur Thematisierung von Machtunterschieden, Strategien des "Otherings", dem Verhältnis von Mehrheiten und Minderheiten sowie zur selbstkritischen Auseinandersetzung mit Privilegien mündeten in einem Workshop mit der Erziehungswissenschaftlerin und Aktivistin in der Black Community Aretha Schwarzbach-Apithy. Sie fokussierte in ihrem Workshop den Wert oder auch das Privileg von "Bildung". Die Irritation bei den Teilnehmenden erfolgte prompt: Aretha Schwarzbach-Apithy sprach von gemeinhin "rassistischer Bildung".

 

Bildung gilt in der Regel als Zugangsvoraussetzung, um überhaupt am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Bildung schützt angeblich vor Armut. Das Recht auf Bildung ist eine zentrale Kategorie der Kinder- und Menschenrechte und wird immer wieder eingefordert, ist es doch trotz langer sozialer Kämpfe nicht für alle Menschen umgesetzt. Bildung gilt als Schlüssel zur Emanzipation und damit auch zur Befreiung aus den Ketten der Sklaverei, wie es z. B. auf der Website der österreichischen "Entwicklungshilfeklubs" dargestellt ist. Gibt es daran etwas zu kritisieren? Es ist doch gut, wenn das Recht auf Bildung endlich global umgesetzt werden würde, nicht wahr? Dass, was eben landauf, landab als anstrebenswert beschrieben wird, soll rassistisch sein? Wie jetzt?

 

Durch eine Reihe von Beispielen machte Aretha Schwarzbach-Apithy schnell deutlich, dass die Bildung, wie sie mehrheitlich verstanden wird, schon aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte aus der Aufklärung heraus strukturell stark von Rassismen durchdrungen ist, diese reproduziert und unkritisch verfestigt. Sie führte aus, dass rassistisches Denken funktioniert und funktioniert hat durch die Unterteilung von Menschen, die Bildung erfahren können bzw. konnten und eben jenen, die dies angeblich nicht können. Auf den Philosophen Immanuel Kant gehe ein Ordnungssystem zurück, in dem Mitteleuropäer*innen auf der höchsten Stufe der "Bildungsfähigkeit" stehen, während andere Menschen daran gemessen herabgesetzt wurden bzw. werden.

 

Bereits in Vorgesprächen zum Workshop stellte die Referentin klar, dass es nicht reicht, den Räumen eine neue Farbe zu geben, d. h. das klassische Bildungsverständnis ein wenig zu reformieren. Nein, Bildung müsse vom Fundament her neu gedacht werden, um im architektonischen Rahmen zu bleiben.

 

Rumms, das saß! Wer nun denkt, es handle sich um Einzelmeinungen im Sinne einer "Critical Whiteness Kampagne", der*die muss enttäuscht werden. Ob nun das Domradio zu Köln (vgl. Gepp 2020) oder auch eine wissenschaftliche Abhandlung innerhalb des von Schwarzbach-Apithy kritisierten Bildungssystems – beide gehen in die gleiche Richtung: Immanuel Kant war ein Rassist, die Würde des Menschen galt nicht für alle Menschen und der von Kant generierte Bildungsbegriff diente dabei als Ausgrenzungsschablone (vgl. Hong 2011). Dieses kritische Hinterfragen von "klassischer Bildung" als Wert finde nicht statt, so die Meinung der Referentin.

 

Es war ein intensiver und selbstkritischer Beginn und Impuls zum Anfang eines – wie es sich bald herausstellte – ungewöhnlichen Jahres! Zu allem was hier benannt wurde, verhält sich die Pandemie wie ein Brennglas, das diskriminierende Strukturen und Denkweisen neu entfacht und aus dem Unsichtbaren hervortreten lässt. Der Workshop von Aretha Schwarzbach-Apithy bot für die kommende Entwicklung ein wichtiges Analyseinstrument. Er legte eine Reihe von wichtigen Erkenntnissen im Bereich Rassismus und Diskriminierung offen, zu denen die vorhandenen Strukturen und Denkarten im Alltag – bewusst und unbewusst – beitragen.

 

Rassistische Diskurse in der "epidemischen Notlage" erkennen und diesen begegnen

In den Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, mit denen sich die Fachgruppe inhaltlich beschäftigt, gab und gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass auch während der Pandemie und im Lockdown Rassismus, Antisemitismus, Diskriminierungen keineswegs in den Hintergrund treten. Vielmehr bildet sich hier auf sehr konkrete Weise ab, was unter dem Konzept des "Othering" – des "Fremd-Machens" – zu verstehen ist: Der "Konstruktion des Anderen", das als nichtzugehörig und abweichend von der Dominanzkultur kategorisiert, abgewertet und abgeurteilt wird (vgl. Institute for Art Education 0. J.). Dies betraf insbesondere BIPoC (Black, Indigenous, People of Color), asiatisch gelesene Menschen, Jüdinnen/Juden, Geflüchtete und Menschen mit Migrationsbiografien. Sie alle wurden und werden in unterschiedlichen Kontexten verdächtigt oder beschuldigt, zur Verbreitung der Pandemie beizutragen. Die Diskriminierungsdiskurse fanden keineswegs jenseits der Öffentlichkeit im Verborgenden statt, wie eine Kolumne von Martin Klingst bei Zeit-Online vom 25.05.2020 verdeutlicht: Nicht die sozialen Umstände und strukturellen Gegebenheit wurden kritisch in Bezug auf das Pandemiegeschehen hinterfragt, sondern einzelne Menschen bzw. konstruierte Gruppen wurden verantwortlich gemacht (vgl. Klingst 2020).

 

Wir zeigen im Folgenden an einigen weiteren ausgewählten Beispielen, wie deutlich die Zusammenhänge zwischen gelesener Herkunft und Diskriminierungen im Kontext von Corona angenommen und insbesondere von Medien- und Politikvertreter*innen, frei nach oben erwähntem Kant’schen Ordnungssystem, wiederholt reproduziert wurden.

 

Zuallererst und bereits vor Ausbruch der Pandemie in Deutschland bekamen ostasiatisch gelesene Menschen rassistische Anfeindungen zu spüren. So verwiesen Amnesty International sowie die (post)migrantische Selbstorganisation "korientation" im Frühjahr 2020 auf ihren Webseiten darauf, dass das Ausmaß an verbaler und körperlicher Gewalt seit Ausbruch der Pandemie gegenüber ostasiatisch gelesenen Menschen um ein Vielfaches zugenommen hat. Dies reiche von Beleidigungsrufen, über offensichtliche körperliche Distanzierungen, bis hin zu massiven Bedrohungen und Angriffen.

 

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes bestätigt diese Angaben in einer Veröffentlichung zu "Diskriminierungserfahrungen im Zusammenhang mit der Corona-Krise" und ergänzt Fälle von institutionellem Rassismus, z. B. durch racial profiling (vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2020, S. 3). "Das Coronavirus enthüllt Ressentiments, die eigentlich überwunden schienen – aber offenbar tief verankert sind." So resümiert ebenfalls die freie Autorin Kim Ly Lam im digitalen und von der Hochschule für angewandte Wissenschaften verantworteten Stadtmagazin Fink.Hamburg (Ly Lam 2020).

 

Legefilme in Aktion, Foto: Internationale Bildungsstätte Jugendhof Scheersberg
Legefilme in Aktion, Foto: Internationale Bildungsstätte Jugendhof Scheersberg

Auch tradierte Ressentiments und Zuschreibungen gegenüber westasiatisch oder nordafrikanisch gelesenen Menschen – meistens gleichzeitig auch als Vertreter*innen eines vermeintlich einheitlichen Islams – werden auf die Pandemie angepasst. Vermeintliche "Groß-Familien" und deren Feierlichkeiten seien "Superspreadingevents", ungeachtet dessen, welche Sicherheitsmaßnahmen ergriffen wurden. Selbst die Impfstoffentwicklung von zwei Ärzt*innen mit türkischer Migrationsbiografie wird als vermeintlich "positive" Integrationsleistung beschrieben und quasi durch die Ausnahmestellung wieder auf ihren eigentlichen Status im Kant’schen Ordnungssystem „zurückgestuft“, wie der Publizist Hasnain Kazim in einem Kommentar im Deutschlandradio Kultur feststellt (vgl. Kazim 2020). Diesen Sachverhalt unterstreicht auch Eva Buchhorn im zum Spiegel-Konzern gehörenden "Manager Magazin". "Am leuchtenden Beispiel von Şahin und Türeci entzündet sich daher eine Debatte neu, die in diesem Jahr bereits durch die 'Black Lives Matter'-Bewegung in den USA eine neue Dynamik gewonnen hatte. Die um Rassismus und Chancengleichheit auch in Deutschland. Wie hält es die Wirtschaft mit Migranten? Wie groß sind die Aufstiegs- und Karrierechancen? Und was tun die Unternehmen gegen Diskriminierung?" Und stellt dabei fest: "Viele Konzerne bringt das in Erklärungsnot." (Buchhorn 2020)

 

Gleichzeitig gab und gibt es eine Verschärfung der Situation geflüchteter Menschen, die in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften leben und wo die Ansteckungsgefahr aufgrund von Mehrbettzimmern und der gemeinschaftlichen Nutzung von Küchen und Sanitäranlagen um ein Vielfaches höher ist. "In den Erstaufnahmeeinrichtungen gab es seit Ausbruch der Pandemie insgesamt mehr als 6.000 Fälle. Zum Vergleich: Derzeit sind in den Einrichtungen rund 36.000 Personen untergebracht. Deutlich mehr Geflüchtete leben in Gemeinschaftsunterkünften, die in der Zuständigkeit der Kommunen sind. Daten zu den Infektionen in diesen 'Anschlussunterbringungen' werden nur in wenigen Bundesländern erhoben", kritisierte Fabio Ghelli im Januar 2021 auf der Basis einer Anfrage an die zuständigen Ministerien der Bundesländer (Ghelli 2021). Er verweist aber auch auf die Aktivitäten der Bundesländer, die Situation durch Unterbringung in Hotels, Jugendherbergen oder Reha-Kliniken zu "entzerren". Dennoch schüren auch hier Massenausbrüche von Infektionen ebenso wie die darauffolgenden Abriegelungen ganzer Unterkünfte Schuldzuweisungen und diskriminierendes Verhalten der Dominanzgesellschaft. Steven Vertovec konstatierte dazu in der taz: "Es besteht die Gefahr, dass der gegenwärtige Umgang mit Migranten und Flüchtlingen zu ihrer Stigmatisierung als Krankheitsüberträger führt, die noch lange nach dem Abklingen der Coronakrise anhalten könnte" und rief schließlich zu mehr Empathie gegenüber den Menschen auf (Vertovec o. J.).

 

Ein weiteres Beispiel aus dem Bereich "Arbeitsmigration" sind rumänische und bulgarische Lohnarbeiter*innen in Schlachtbetrieben der Fleischindustrie, die zum Ziel rassistischer Vorurteile wurden. Einen angeblichen Zusammenhang von Herkunftsländern, Corona-Inzidenzen und Menschen, die anhand der Herkunftsländer gelesen werden, konstruierten auch Politiker*innen, wie das Beispiel des Ministerpräsidenten des Landes NRW, Armin Laschet, zeigt. Laschet hatte Lohnerwerbstätige in Fleischbetrieben in direkter Abfolge mit Corona-Zahlen in Osteuropa dargestellt und die eigene Verantwortung der Industrie erst nachrangig benannt. Anschließend reagierte er jedoch auch auf die Kritik, wie bspw. im Online-Format der Zeitung "Neues Deutschland" zu lesen war. Obwohl bereits seit vielen Jahren die schlechten Arbeitsbedingungen in den Großbetrieben sowie die Unterbringung in engen und desolaten Massenunterkünften von Arbeits- und Menschenrechtsorganisationen angeprangert werden, hielt sich in der öffentlichen Wahrnehmung hartnäckig die Meinung, dass sich das Coronavirus dort aufgrund der Beschäftigten aus Bulgarien und Rumänien rasant ausbreite. Kein Gehör fanden darin die Ängste, Sorgen und Wünsche der Betroffenen, wie der Pfarrer und Szenekenner Peter Kossen u. a. in einem Interview auf ZEIT-Online anprangerte.

 

Untermauert wird dieser Ausdruck "antislawischen Rassismus" in Form von Schuldzuweisungen gegenüber "Anderen" auch durch persönliche Erfahrungen einer polnischen Kollegin innerhalb der Fachgruppe: Im Herbst 2020 stiegen in Europa die Inzidenzen regional und überregional wieder stark an. Die im Kindergarten nach den Herbstferien gern beiläufig gestellte Frage: "Waren Sie auch im Urlaub?" erhielt dabei eine besondere Konnotation. Denn in der Regel folgte danach umgehend die Frage: "Waren Sie in Polen?!" in einem vorwurfsvollen Tonfall, der der Aussage "Sie waren doch bestimmt in Polen?!" gleichkommt.

 

Auch Rom*nja und Sinti*zze sind im Fokus derjenigen, die vermeintlich Schuldige für die aktuelle Krise benötigen. So wurden aufgrund von Corona-Ausbrüchen in Berlin-Neukölln, Hagen, Göttingen und Magdeburg ganze Häuserblocks vom Gesundheitsamt unter Quarantäne gestellt, in denen vornehmlich Rom*nja und Sinti*zze-Familien leben. In diesem Zusammenhang zogen erneut Behörden und Politiker*innen viel Kritik und Vorwürfe der generalisierten Abwertungen gegenüber Menschengruppen und Familien auf sich, wie das folgende Beispiel aus der taz für Berlin-Neukölln zeigt: "Gesundheitsstadtrat Liecke (CDU) wurde in den vergangenen Tagen mehrfach mit Äußerungen zitiert, dass ein Großteil der Betroffenen aus der 'Roma-Community' komme. Die Kommunikation erweise sich als 'schwierig', sagte er etwa der Morgenpost, weil viele kaum Deutsch sprächen und auch 'bildungsmäßig nicht auf dem Stand (sind), dass sie alle medizinischen Informationen verstehen können.'" Die Erinnerung an die Kant‘sche Einteilung von Menschen nach ihrer Bildungsfähigkeit erübrigt sich an dieser Stelle!

 

Neben der Kritik, dass die Zusammensetzung der Bewohner*innenschaft veröffentlicht wurde und damit dem "Gadje-Rassimus" Vorschub leistet, wurde auch hier deutlich, dass bei einer Vielzahl der betroffenen Familien strukturelle Diskriminierungen durch Armut, enge Wohnungen oder Gemeinschaftsunterkünften sowie Sprachbarrieren keine Berücksichtigung beim Umgang mit der Corona-Pandemie finden und sie auf sich allein gestellt bleiben. So bestätigte es auch Guillermo Ruiz, Vorstand des Komitees für Grundrechte und Demokratie e. V. und Mitbegründer vom Sozialfabrik e. V., einem Verein zur Bekämpfung von Gadje-Rassismus und zur politischen Bildungsarbeit zum Empowerment von Geflüchteten und Migrant*innen, in einem Interview.

 

Die unsichere Wissenslage auch nach einem Jahr natur- und sozialwissenschaftlicher Forschung bietet bis heute den Nährboden für einfache Erklärungen, die sich in absurdeste Verschwörungsideologien verwachsen. Ähnlich der Abwertung von Rom*nja und Sinti*zze mag es an dieser Stelle kaum noch verwundern, dass diese abwegigen Konstruktionen oft auf jahrhundertealte antisemitische Muster zurückgreifen (vgl. Schmidt 2020), den Holocaust verharmlosen (vgl. Grujić/Lorenz 2021) und zu tätlichen Angriffen auf Jüdinnen und Juden führen können. "Jüdinnen und Juden überlegen sich jeden Tag, welchen Weg sie nehmen, wer im dunklen Auto sitzt und ob der Gottesdienstbesuch auch wirklich sicher ist", lautete auch die Einschätzung von Anetta Kahane, Stiftungsvorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, auf ihrer Website. Dieser Bewegung der Verschwörungstheoretiker, z. B. der Querdenkerbewegung, schließt sich gern auch die rechtspopulistische Politik an.

 

Einfache Lösungen? Außerschulische politische Bildung als Impfstoff

All die genannten Beispiele aus einem Jahr Pandemieerfahrung verdeutlichen und unterstreichen die Kernaufgaben und Relevanz der außerschulischen politischen Bildung: Diversitätssensible, rassismuskritische und antidiskriminierende Inhalte und Methoden verbreiten und in den Seminaren umsetzen. Unsere Bildungsangebote sind – nicht nur aber insbesondere – in Krisensituationen von sehr großer Bedeutung und sollten möglichst für viele Menschen als sensibilisierende "Superspreadingevents" verstanden werden, in denen die Ideen der Gleichwertigkeit aller Menschen und ihrer individuellen Vielfalt weiterverbreitet werden. Die Beschäftigung mit eigenen Privilegien und das Zulassen der Perspektiven anderer Menschen muss immer wieder geübt werden. Der eingangs beschriebene Workshop zur "rassistischen Bildung" kann dafür als konstruktives Beispiel dienen. Es geht um das "Verlernen" des klassischen Bildungsverständnisses, nicht um das "Verlernen von Bildung" an sich. So kann es gelingen, Bildung als gleichwertige "Welt-Aneignung" und "Selbstbewusstseins-Erfahrung" aller zu verstehen. Nur wenn es den politischen Bildner*innen gelingt, genügend Zeit zur Selbstreflexion einzuräumen, Menschen zuzuhören und Räume für die Geschichten, Wahrnehmung und Empfindungen von diskriminierten Gruppen zu schaffen, werden die Leerstellen sichtbar. Die immanenten Strukturen der Ausgrenzung, Abwertung und der Rassismen im Bildungssystem und darüber hinaus treten so hervor und können benannt werden. Anschließend lässt sich pädagogisch dagegen arbeiten. Der in vielen Bildungsstätten angebotene Anti-Bias-Ansatz sei hier bespielhaft genannt. Gleichzeitig kann die außerschulische politische Bildung, wenn sie die klassische Bildung verlernt, als Impfstoff gegen aufkeimende menschenverachtende Ideologien gesehen werden. Damit ist es ohne Zweifel notwendig, Kooperationen einzugehen und auszubauen – ob mit Netzwerken von Betroffenen oder mit Partnern der formalen Bildung, wie Schule, Ausbildungseinrichtungen oder auch Universitäten. Sich gemeinsam auf den Weg zu begeben – nicht zur Renovierung der Bildung, sondern zur grundliegenden Sanierung des Systems vom Fundament an, sollte eine Lehre aus einem Jahr Pandemieerfahrung sein.

 

Eine Bildung, der dies gelingt und die somit zu Aneignung einer pluralen Welt beiträgt, ist nicht nur ein Impfstoff in der Pandemie, sondern auch ein Mittel darüber hinaus. Deshalb: Empfohlene Impfauffrischung mindestens zweimal jährlich für alle!

 

 

Bericht aus der Praxis

Projekt vollabgeDREHt: Neuland deutsches Bildungssystem

 

Illustrierte Bildungsplakate waren Ausgangspunkt des Projekts, Grafik: Kreis Schleswig-Flensburg & Stadt Flensburg
Illustrierte Bildungsplakate waren Ausgangspunkt des Projekts, Grafik: Kreis Schleswig-Flensburg & Stadt Flensburg

Was machen neuzugewanderte Familien, wenn sie in Deutschland ankommen? Unterkunft und Verpflegung müssen gewährleistet sein, genauso wie das Leben in seelischer und körperlicher Unversehrtheit, ein Leben in Freiheit und Frieden mit aller Ausstattung der ihnen zustehenden Rechte. Das Recht auf Bildung ist eines davon.

 

In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 heißt es in Artikel 26:

  1. Jeder hat das Recht auf Bildung. Die Bildung ist unentgeltlich, zum mindesten der Grundschulunterricht und die grundlegende Bildung. Der Grundschulunterricht ist obligatorisch. Fach- und Berufsschulunterricht müssen allgemein verfügbar gemacht werden, und der Hochschulunterricht muß allen gleichermaßen entsprechend ihren Fähigkeiten offenstehen.
  2. Die Bildung muß auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muß zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein.
  3. Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wählen, die ihren Kindern zuteil werden soll.

 

Ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte auch bereits über 70 Jahre alt und – mit Verlaub – nicht mehr jede Begrifflichkeit up to date, so birgt sie jedoch mindestens zwei wesentliche Bestandteile, anhand derer die Bildungskoordinatorin für Neuzugewanderte des Kreises Schleswig-Flensburg nahe der deutsch-dänischen Grenze sowie die Internationale Bildungsstätte Jugendhof Scheersberg gemeinsam ein Projekt entwickelten, das neuzugewanderte Familien dabei unterstützen sollte, sich im Bildungssystem Deutschlands zurechtzufinden. Denn erklären Sie mal auf Anhieb und verständlich, was das RBZ oder das BBZ im deutschen Schulsystem ist, oder eine OGS, oder ein EMS … Hierzu sollten in einer Projektlaufzeit von einem halben Jahr kurze mehrsprachige Erklärfilme zu einzelnen Bildungsinstitutionen entstehen. In der Kreisbehörde waren bereits anschaulich unterschiedliche Bildungswege illustriert worden. Jedoch sollte ebenso aus inklusiven Gründen gewährleistet werden, dass die Inhalte audiovisuell abrufbar sind, also einer Lesehürde entgegengewirkt werden konnte.

 

Was von Schule handelt, muss gemeinsam mit Schule entstehen

Die Idee, mit Schüler*innen gemeinsam dieses Projekt zu verwirklich und kurze Filme zu erstellen, in denen die verschiedenen Bildungsinstitutionen einfach erklärt werden, entstand Ende 2019. Ziel war es, den Perspektivwechsel zu fördern: Wie fühlen sich Menschen auf der Flucht, wenn sie in ein ihnen fremdes Land kommen? Überwiegt der erschreckende Ohnmachtsgedanke angesichts des vermeintlichen Bürokratiemonsters Deutschland, obwohl Betroffene eigentlich befreit aufatmen sollten? Für die in Deutschland Geborenen sind diese Strukturen gewohnter Normalzustand und sie finden sich leicht(er) zurecht. Aber politische Bildung ist auch, sich zu vergegenwärtigen, dass dieser Normalzustand nicht für alle gleichermaßen gilt. Aus dem Perspektivwechsel sollte der Solidargedanke als zweites Leitziel formuliert werden: Wie können wir es schaffen, es für neuzugewanderte Kinder, Jugendliche und ihre Eltern leichter zu machen, sich in neuen Strukturen zurechtzufinden?

 

Nach kurzer Planungsphase und Projektteamfindung konnte die Zentralschule Harrislee, eine Gemeinschaftsschule des Kreises, für die Durchführung im Rahmen des offenen Ganztagskonzepts gewonnen werden. Bereits Mitte Januar 2020 fanden erste Akquisetreffen an der Schule statt und eine Informationsveranstaltung konnte realisiert werden, um auch die Eltern der interessierten Schüler*innen in das Projektvorhaben einzuführen. Das Ziel war es, größtmögliche Transparenz zu bieten, denn den Schüler*innen musste bewusstwerden, welcher Arbeits- und Zeitaufwand, jedoch auch welcher Mehrwert die Teilnahme am Projekt bedeutete. Die Förderung von Medienkompetenz findet an Schulen vermehrt statt, ist jedoch weiterhin stark ausbaufähig. Die Internationale Bildungsstätte Jugendhof Scheersberg setzt hier mit ihrer Expertise der außerschulischen Bildungsarbeit, insbesondere mit der Verknüpfung von Medienkompetenz mit politischer Bildung, an.

 

Die Gruppe im Fokus

12 Jugendliche unterschiedlicher Herkunft starteten in das Halbjahresprojekt, sollten sich aktiv einbringen in Konzeption und Produktion der Erklärfilme über Bildungsorte und -wege in Deutschland. Und nachdem auch das Organisatorische – Förderung durch die Nospa-Jugend- und Sportstiftung Schleswig-Flensburg, Honorar für freischaffende Referent*innen, Versicherungsschutz, Einverständniserklärungen der Eltern u. a. – geklärt war, konnte das Projekt mit einem Kick-off-Wochenende auf dem Scheersberg beginnen.

 

Im Vordergrund standen hier die Teambuilding-Einheiten, um eine grundlegende Basis für die Gruppendynamik zu schaffen, denn die Jugendlichen kannten sich zumeist nur vom Sehen auf dem Schulhof. Außerschulische Lernorte wie der Jugendhof Scheersberg bieten jungen Menschen die Möglichkeit, außerhalb des Sozialisationsraums Schule zu einer Gruppe zu werden und ihre Rollen neu zu bestimmen.

 

Die Parameter, die das Miteinander bestimmen sollten, waren: sich auf Augenhöhe begegnen, Kreativität fordern und fördern, Entwicklungsschritte der Gruppe und Meilensteine des Projektes gemeinsam bewerten und positiv anerkennen. Mit Erstaunen erkannten die Projektleitenden, dass die neu formierte Gruppe sich schon nach dem ersten Tag gefunden hatte und sehr vertraut und aufmerksam miteinander umging. Zugegebenermaßen waren diese Gruppenfindungsprozesse durch die verhältnismäßig kleine Gruppengröße begünstigt, aber lange nicht selbstverständlich.

 

Der zweite Punkt an diesem Kick-off-Wochenende war das Vermitteln von Basiswissen: Filmtechniken, Einstellungsgrößen, Konzeption, Storyboard, Kamera- und Tontechnik sowie die unterschiedlichen Lizenzrechte. Ein wahrer Crash-Kurs in Sachen Filmproduktion, der in das zwanglose Ausprobieren und eigenständige Arrangieren mündete.

 

Der zeitliche Ablauf sah drei dieser intensiven Block-Seminare mit je ca. zwei Monaten Abstand auf dem Scheersberg vor. In den Zwischenzeiten organisierten die freischaffenden Referent*innen wöchentliche 90-minütige Konzeptions- und Planungstreffen im Rahmen des offenen Ganztagskonzeptes der Schule. Es wurde geplant, verworfen, neu gedacht und skizziert … Welche Bildungseinrichtungen sind wichtig für jemanden, der oder die neu in ein fremdes Land kommt? Und wie ist das überhaupt mit der Schulpflicht in Deutschland? Darüber mussten sich die Teilnehmenden selbst erst klarwerden. Selbst die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb schreibt: "Das deutsche Bildungssystem grafisch darzustellen ist gar nicht so einfach, zumal es ein deutsches Bildungssystem genau genommen gar nicht gibt. Denn für die Bildungspolitik sind in Deutschland die Bundesländer zuständig." (Edelstein 2013).

 

Plauschen, planen, Pandemie

Für das zweite Intensivwochenende auf dem Scheersberg sollten bereits im Schulrahmen Konzepte entwickelt werden. Nur eine Woche vor dem Frühjahrslockdown im Zuge der Covid-19-Pandemie konnten die Schüler*innen unter besonderen Schutzmaßnahmen und Hygienekonzept das Wochenende in der Internationalen Jugendbildungsstätte im hohen Norden wahrnehmen. Doch eine vorübergehende Schließung der Einrichtung und der Schulen war bereits deutlich absehbar. Die Gruppe arbeitete dennoch fleißig und hoffnungsvoll weiter. Natürlich waren die Bedenken ob der unsicheren Planungsmöglichkeiten auch auf Seiten des Leitungsteams groß und ein gewisser Produktionsdruck, die Filme möglichst schnell fertigzustellen, war insgeheim spürbar. Das war man der Mittelgeberin und den eigenen Ansprüchen nach all den zeitintensiven Gesprächen und der aufwändigen Koordination schuldig, so war zumindest das Gefühl. Die Schwierigkeit bestand darin, die Schüler*innen den Druck nicht spüren zu lassen. Am zweiten Intensivwochenende wurden letztendlich die Planungen und Konzepte konkretisiert. Eigenständig telefonierten die Schüler*innen mit Verantwortlichen von den Bildungsorten, über die sie einen Erklärfilm drehen wollten und fixierten Interviewtermine. Niemand wusste, was in Sachen Pandemiebekämpfung auf sie zukommen würde und die Planungen somit zunichtemachen könnte.

 

Da war er nun, der Lockdown, der den Stillstand des Projektes bedeutete. Als außerschulische Bildner*innen war es dem Projektteam nicht erlaubt, weiterhin im offenen Ganztag mit den Schüler*innen zu arbeiten. Die Gefahr war nun, den Kontakt zu den Teilnehmenden zu verlieren und somit auch das Projekt zu riskieren. Deswegen startete das Team von Zeit zu Zeit eine Online-Spaß-Offensive: Rätselraten, Wettbewerb, gemeinsame Teilnahme an Online-Sessions von befreundeten Projekten, aber auch Rechercheübungen. Und alles diente nur dem Zweck, Kontakt zu halten sowie bei der nächstbesten Gelegenheit wieder Fahrt aufzunehmen und das Projekt zu Ende zu führen.

 

Planänderungen und Abschluss

In der Zwischenzeit wurden die bereits erdachten Konzepte und Pläne verworfen. Die Sommerferien und somit auch die Projektlaufzeit näherten sich dem Ende. Interviewtermine in Präsenz an den betreffenden Bildungsorten waren aus Vorsicht und zum Schutz der Schüler*innen nicht mehr realisierbar. Gegen Ende des Schuljahres war immerhin ein Treffen wieder möglich. Kurzerhand wurde die Idee angegangen, die Erklär- und Interviewfilme als sogenannte Legefilme umzusetzen. Damit diese auch einen ansprechenden Look haben, wurde kurzerhand eine Visualisierungsexpertin für einen Workshop eingeladen. Das Ziel war es nun, mit reduzierten, aber ansprechenden Zeichnungen die Bildungsinstitutionen zu erklären, so dass Neuzugezogene eine Hilfestellung an die Hand bekämen, sich im deutschen Bildungssystem zurechtzufinden.

 

Innerhalb eines Wochenendes konnten so die Erklärfilme abgedreht werden, bei denen alle teilnehmenden Schüler*innen einmal auch vor der Kamera als Moderator*in fungierten. Den Schnitt übernahmen aus Zeitgründen die beiden auf Honorarbasis mitwirkenden Referent*innen Brit Stichel (Dozentin an der Europa Universität Flensburg) und Thierry Jové-Skoluda (Medieninformatik-Student der EUFL).

 

Sieben Filme entstanden: die Grundschule, weiterführende Schulen, berufsbildende Schulen, Tagespflege und Krippe, Kindergarten, Jugendzentren und Familienzentren.

 

In einem Tonstudio wurden die Filme auf Arabisch, Farsi, Kurdisch und Englisch mit Hilfe von weiteren Schüler*innen synchronisiert.

 

Die erfolgreiche Zusammenarbeit sollte abschließend auch belohnt werden. Bei einer eintägigen Segeltour auf einem Traditionssegler wurden der jungen Filmcrew die finalisierten Filme präsentiert.

 

Vor Schulleiter, Vertreter der Nospa-Jugend- und Sportstiftung sowie einigen Eltern bekamen die Schüler*innen am Ende des Schuljahres vom Projektteam ihre Teilnahmezertifikate überreicht. Das Projekt ist beendet, doch der Nachklang ist groß. Das Institut für Qualitätsentwicklung Schleswig-Holstein, zuständig für Lehrkräfteaus- und Fortbildung, wurde auf das Projekt aufmerksam und lud die außerschulischen Bildner*innen zur Präsentation ihres Vorzeige-Projekts auf den Landeselternfachtag ein. Auch die Landeshauptstadt Kiel verweist auf ihrer Homepage auf die im Projekt entstandenen Bildungsfilme als unterstützendes Element für neuzugewanderte Familien.

 

Die Filme sind auf der Website der Internationalen Bildungsstätte Jugendhof Scheersberg abrufbar.

 

Malte Morische, Internationale Bildungsstätte Jugendhof Scheersberg
www.scheersberg.de
 

 

 

Bericht aus der Praxis

Außerschulische politische Bildung als Ort des Empowerments für das Leben

 

Exkursion der Teilnehmenden "Diktatur und Demokratie am Lernort Weimar", Foto: EJBW
Exkursion der Teilnehmenden "Diktatur und Demokratie am Lernort Weimar", Foto: EJBW

Keine "normale" Bildungsfahrt …

Für Jugendliche, die in Deutschland geboren sind und deren Familien aus dem Libanon kommen, birgt der Lernort Weimar interessante Herausforderungen, zumal wenn das Thema der Bildungsfahrt "Diktatur und Demokratie am Lernort Weimar im Zeitalter der Migration – Mehrheit und Minderheit neu denken!" lautet. Einige der Jugendlichen der hier beschriebenen Bildungsfahrt, besuchten schon im Herbst 2019 die Europäische Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätte (EJBW) sowie den Lernort Weimar. Die Gruppe war den Verantwortlichen also nicht gänzlich unbekannt.

 

Die Jugendlichen erleben in ihrem Alltag vielfältige Herausforderungen: Sie sind zumeist keine deutschen Staatsbürger*innen und haben wenig reale Mitbestimmungsmöglichkeiten. Sie erleben immer wieder Ablehnung und pauschale Zuschreibungen. Daher war es besonders wichtig, Vertrauen aufzubauen und kleine Schritte zu gehen, die dann letztlich von den Teilnehmenden als große Erfolge gewertet wurden.

 

Die Gruppe hat sich in Essen auch unter Mitwirkung der Kollegin Katja Schütze vom Bildungswerk der Humanistischen Union NRW über lokale Aktivitäten zum Thema "Erinnerung und Teilhabe" gefunden und ist zum Teil untereinander familiär verbunden. Für einige Teilnehmende war die erste Fahrt nach Weimar 2019 auch ein erstes Rauskommen aus Essen überhaupt. Damals wurde die Gruppe von Sozialarbeitern und Lokalpolitikern begleitet. Nach dieser Erfahrung folgten bis zum Oktober 2020 noch weitere Exkursionen in ähnlicher Zusammensetzung u. a. nach Berlin.

 

… mit Menschen, die zwar markiert, aber kaum sichtbar sind …

Vor diesem Hintergrund wurden die Ziele des Seminars v. a. auf die Stärkung der Gruppe an sich gelegt. Die Tatsache, aus libanesischen Familien zu kommen, die über mehrere Generationen hinweg über keinen gesicherten Aufenthaltsstatus verfügen, als auch die damit verbundene Ausgrenzung auf verschiedenen Ebenen (individuell, institutionell, strukturell, gesellschaftlich) rückte im Sinne der Kinder- und Jugendhilfe und damit der außerschulischen politischen Bildung Empowermentansätze in den Fokus. Der Blick richtete sich auf die Jugendlichen selbst und auf die Stärkung in ihrem Miteinander und in der Gesellschaft Ziel war es, dass die Jugendlichen sich – ausgehend von ihrer eigenen Biographie – als Teil der Gesellschaft verstehen und reflektieren. Der Schlüssel dazu lag ganz entscheidend darin, das Vertrauen der Jugendlichen zu gewinnen.

 

Methodisch-didaktisch richtete sich der Fokus explizit auf eine Prozessorientierung und entsprechende Begleitung. Die Seminarinhalte – genannte werden können hier z. B. Umgang mit Vielfalt, Identität, Erfahrung von Macht und Unterdrückung, Erinnerung – "dienten dabei als Angebot für die persönliche und gemeinschaftliche Auseinandersetzung unter der Fragestellung: Was hat das alles mit mir zu tun?

 

… deren Geschichte an Bürotüren scheitert …

Von Vorteil waren die Erfahrungen vom Seminar im Herbst 2019. Hier nahm die Vertrauensbildung seitens der Jugendlichen in die Gegebenheiten vor Ort, d. h. in die Bildungsstätte, in den Bildungsreferenten und auch in die Umgebung in Weimar einen großen Raum ein. Die Jugendlichen kamen 2019 mit Bildern im Kopf nach Weimar, die mit Nachrichten von Rassismus in Thüringen und Ostdeutschland aufgeladen waren und die sich zum Teil auch bestätigten. Damit musste umgegangen werden. Dennoch gelang es, dieses Vertrauen aufzubauen, sodass ein Jahr später deutlich mehr Sicherheit und auch Mut bei den jungen Menschen spürbar war. Sie kannten sich schon aus. Sie hatten Strategien des Umgangs mit unfreundlichen Äußerungen außerhalb des Seminars und außerhalb der Bildungsstätte sowie mit bösen Blicken seitens der Bevölkerung entwickelt und konnten zusehends auch andere, positive Erfahrungen machen. Dies lässt sich auch durch einige Beispiel aus der Erwartungsabfrage unterstreichen. Neben dem Wunsch nach Ausschlafen und leckerem Essen – letzteres ist auch seminartechnisch nicht zu unterschätzten – sei hier Folgendes genannt:

  • Respektvoller Umgang miteinander
  • kein Stress mit den Bürger*innen
  • Gemeinschaft/eine gute Gesellschaft
  • einen schönen Aufenthalt/Spaß
  • etwas über Faschismus lernen/neue Erfahrungen machen
  • Pünktlichkeit

Dass v. a. der letzte Punkt aus dem Teilnehmendenkreis heraus kam, zeigt den erhöhten Anspruch der Gruppe an sich selbst – anders als 2019.

 

… und welche Aneignungsräume brauchen

Im Anschluss an die oben dargestellten Ziele sei hier besonders auf ein Ereignis während des Seminars in der EJBW hingewiesen: Wie schon einleitend erwähnt, sind viele der Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus ihrem Familienkontext bisher selten herausgekommen. Sie stehen vor der Herausforderung, selbstständig handeln zu lernen, Verantwortung zu übernehmen und nicht dem Motto zu folgen "Ich muss mich nicht mit schwierigen Fragen auseinandersetzen. Irgendjemand wird mir die Entscheidung schon abnehmen." Im Seminar kam es beim Stadtrundgang durch Erfurt zu einem für viele nachhaltigen Erlebnis. Beim Besichtigen der historischen Mikwe am Erfurter Flüsschen Gera überlegten sich manche, die Furt (einen Wasserdurchgang) unter der historischen Krämerbrücke zu benutzen, um auf die Insel in der Mitte des Flusses zu gelangen. Nach anfänglichem Abwarten und ein paar mutigen Sprüchen, setzte sich ein Teil der Gruppe (ohne die Schuhe auszuziehen!) bei 3° Außentemperatur in Bewegung, das Wasser erfolgreich zu durchqueren. Allein dies getan zu haben, ohne von einer höheren Instanz abgehalten worden zu sein, setzte trotz kalter Füße und nasser Schuhe und Hosen bei vielen Jubel und Glücksgefühle frei, die kaum zu erwarten waren. Es folgte darüber hinaus auch keine Strafe bzw. Sanktionen seitens der Seminarleiter*innen. Lediglich die Konsequenzen des eigenen Tuns mussten "ausgehalten" werden. Das geplante Exkursionsprogramm wurde umgesetzt. So entwickelte sich spontan eine selbst gewählte Situation, in der Freiheit und Eigenverantwortung pädagogisch kaum besser hätten simuliert werden können und in der die Referent*innen lediglich begleitend mit Papiertaschentüchern zum behelfsmäßigen Trocknen der Füße und Schuhe zur Verfügung standen. Eine Selbstwirksamkeitserfahrung solchen Ausmaßes, ohne dass die Betroffenen in Resignation verfielen, könnte dann auch Folgen über das Seminar hinaus haben, z. B. als Ermutigung für das politische Engagement einzelner Gruppenmitglieder gegen die langjährige Sippenhaft-Strategie einzelner Behörden, damit sie neben der deutschen Staatsbürgerschaft auch endlich eine gleichwertige gesellschaftliche Anerkennung erlangen (vgl. Boettner/Schweitzer 2020b). Dies wäre dann ein wünschenswertes Empowerment, das den Zielen der außerschulischen politischen Bildung mehr als genüge täte.

 

Literatur

Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2020): Diskriminierungserfahrungen im Zusammenhang mit der Corona-Krise. Berlin

Boettner, Johannes/Schweitzer, Helmuth (2020a): Der Name als Stigma. In: Sozial Extra 44, S. 349–353

Boettner, Johannes/Schweitzer, Helmuth (2020b): Was heißt denn hier "Clan"? In: Sozial Extra 44, S. 354–363

Buchhorn, Eva (2020): Migrantenkarrieren – wie diskriminierend ist die deutsche Wirtschaft? In: manager magazin

Edelstein, Benjamin (2013): Das Bildungssystem in Deutschland; Dossier Bildung der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb

Gepp, Uwe (2020): Kant, der Rassist. Über Rassismus bei Immanuel Kant; Beitrag bei Domradio vom 14.08.2020

Ghelli, Fabio (2021): Flüchtlingsunterkünfte stark betroffen, Mediendienst Integration vom 29.01.2021

Grujić, Ana/Lorenz, Laurin (2021): Warum sich "Querdenker" mit Sophie Scholl und Anne Frank vergleichen. In: Der Standard vom 06.01.2021

Hong, Eun-Young: Rassismus als Problem kritischer Bildung. Widersprüche von Aufklärung, Solidarität und Vielfalt (2011); Weinheim

Institute for Art Education (o.J.): Othering. In: Glossar des ehemaligen Institute for Art Education der Züricher Hochschule der Künste

Kazim, Hasnain (2020): Eine migrantische Erfolgsgeschichte. Politisches Feuilleton von Deutschlandfunk Kultur vom 13.11.2020

Klingst, Martin (2020): Beschleuniger der Ungleichheit. In: Zeit-Online

Ly Lam, Kim (2020): Coronavirus: Rassismus schützt nicht. In: Fink.Hamburg vom 18.02.2020

Schmidt, Joel (2020): Verschwörungstheorien und Corona: Antisemitismus in Deutschland nimmt zu. In: Frankfurter Rundschau vom 08.11.2020

Vertovec, Steven (o. J.): Corona verschärft Rassismus: Ein Stigma, das bleibt. In: taz

 

Zugriff auf alle in diesem Bericht genannten Links: 31.05.2021.

 

Mitglieder der Fachgruppe "Flucht und Migration"

 

Kerem Atasever
Alte Feuerwache e. V. – Jugendbildungsstätte Kaubstraße
Email: kerem@kaubstrasse.de

 

Urte Bliesemann
dock europe e. V. Internationales Bildungszentrum
Email: urte.bliesemann@dock-europe.net

 

Iwona Domachowska
Gustav-Stresemann-Institut in Niedersachsen e. V. Europäisches Bildungs- und Tagungshaus Bad Bevensen
Email: iwona.domachowska@gsi-bevensen.de

 

Christian-Friedrich Lohe
Stiftung "Europäische Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätte Weimar"
Email: lohe@ejbweimar.de

 

Malte Morische
Internationale Bildungsstätte Jugendhof Scheersberg
Email: morische@scheersberg.de