“Demokratie
braucht
politische Bildung”

Welche Rolle kommt politischer Bildung im Umgang mit rechtem Terror zu?

Foto: AdB
26.05. 2023

AdB-Einrichtungen tauschen sich in Denkfabrik über Erfahrungen und Herausforderungen aus

Vom 3. Mai bis 5. Mai 2023 kamen Vertreter*innen aus neun AdB Mitgliedseinrichtungen zur Denkfabrik zusammen, die erstmals seit Pandemiebeginn wieder in Präsenz im Freizeitwerk Welper in Hattingen stattfand. Die neunte Ausgabe des Formats widmete sich dem Umgang politischer Bildung mit rechtem Terror in Deutschland nach 1948 und nahm mit einem erinnerungspolitischen Stadtrundgang durch Solingen besonders Bezug auf den Brandanschlag am 29. Mai vor dreißig Jahren.

 

 

Bei dem Anschlag wurden fünf Menschen ermordet:

 

  • Gürsün Ince (27)
  • Hatice Genç (18)
  • Gülüstan Öztürk (12)
  • Hülya Genç (9)
  • Saime Genç (4)

 

Rechter Terror in Deutschland seit 1948: Einordnung, Umgang und Kontroversen

Die Denkfabrik startete mit einem Workshop zu Fällen rechten Terrors in Deutschland seit 1980, bei dem zunächst in Kleingruppen zu rechtsextremen Terroranschlägen gearbeitet wurde. Die verschiedenen Gruppen befassten sich mit unterschiedlichen Ereignissen: dem antisemitischen Doppelmord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke in Erlangen 1980, dem Oktoberfest-Attentat 1980 und dem neunfachen rassistischen Mord von Hanau 2020. Eine weitere Gruppe diskutierte die konzeptionelle Einordnung von Rechtsterrorismus. Der Workshop diente einer ersten Auseinandersetzung mit Taten rechten Terrors in Deutschland, deren gesellschaftlichen Bedingungen und der öffentlichen Auseinandersetzung damit.

Anschließend fand ein Workshop zu Methoden und Erfahrungen aus der Bildungsarbeit zum rassistischen Pogrom in Rostock-Lichtenhagen von Johann Henningsen von der AdB Mitgliedseinrichtung Soziale Bildung e.V. statt. Hierbei erhielten die Teilnehmenden Einblicke in die lokale Bildungsarbeit unter Einbezug von Betroffenen-Perspektiven und erprobten selbst Methoden.

 

Erinnerung vor Ort erleben: Solingen 30 Jahre nach dem Brandanschlag

Vor dem Hintergrund des 30-jährigen Gedenkens an den Brandanschlag in Solingen fand am nächsten Tag, dem 4. Mai, eine Exkursion nach Solingen statt. Im Rahmen eines erinnerungspolitischen Stadtrundgangs mit Winfried Borowski von der Jugendhilfe-Werkstatt Solingen e.V. besuchte die Gruppe die Leerstelle des ehemaligen Wohnhauses der Familie Genç – bis heute der zentrale Trauer- und Gedenkort der Angehörigen – und das von der Jugendhilfe-Werkstatt initiierten Solinger Mahnmal.

Am Nachmittag traf die Gruppe auf die Solinger Zeitzeugin Birgül Demirtaş. Sie las Passagen aus dem von ihr mitherausgegebenen und soeben erschienen Buch Solingen 30 Jahre nach dem Brandanschlag, in dem unter anderem Interviews mit Angehörigen der Mordopfer enthalten sind, die sich bisher nicht öffentlich zu den Folgen des Brandanschlags für sich und ihre Familie geäußert hatten. Außerdem gab Birgül Demirtaş biografische Einblicke und kommentierte die gesellschaftspolitischen Entwicklungen vor Ort seit dem Brandanschlag 1993.

Die während der Exkursion gewonnenen Erkenntnisse eröffneten den Teilnehmenden neue Perspektiven für die eigene Bildungsarbeit. Dabei zeigte sich vor allem, dass jeder bildnerische Umgang mit Erinnern mit einer komplexen Formation aus teils widerstreitenden Erzählungen, Interessen und Traumata konfrontiert ist. Deren pädagogische Bearbeitung benötigt einen hohen Grad an Selbstreflexivität in Bezug auf die Möglichkeiten und Grenzen politischer Bildung.

 

Rechter Terror als vielschichtige Herausforderung und Aufgabe politischer Bildung

Am letzten Tag lag der Fokus auf Wissenstransfer, um die in den ersten Tagen gewonnenen Erkenntnisse zusammenzuführen und für die eigene Bildungspraxis anschlussfähig zu machen. Erste Impulse dazu lieferte Anke Hoffstadt (Hochschule Düsseldorf), die zu „Multiperspektiven politischer Bildung zu rechter Gewalt: Von Aufträgen, Ansprüchen, Fragen, Haltungen und Bündnissen“ referierte und Vorschläge für den bildnerischen Umgang mit Ereignissen rechten Terrors formulierte.

Mit Anregungen daraus im Hinterkopf fand zum Abschluss erneut ein Workshop statt. Unter dem Titel „Multiperspektivische Praxis: Muslimische Perspektiven auf politische Bildung im Kontext rechten Terrors“ eröffnete Yasemin Soylu, Kollegin der AdB Mitgliedseinrichtung Teilseiend e.V., Einblicke in die eigene Arbeit. Am Beispiel der fortwährenden Heidelberger Erinnerungsarbeit an die Morde in Hanau zeigte Soylu auf, dass Multiperspektivität nicht alleine durch diversitätssensible Bildungskonzepte und -teams zu erreichen ist. Darüber hinaus brauche es eine vertrauensbasierte Querschnittsarbeit in lokalen Zusammenschlüssen mit aktivistischen, politischen und anderen Akteur*innen.

 

Insgesamt wurden während der Denkfabrik verschiedene Fragen in Bezug auf die politische Bildung aufgeworfen, die weitere Bearbeitung benötigen, zum Beispiel die Frage, wie konstruktiv über Täter*innen und deren Motive gesprochen werden kann, ohne sie in Konkurrenz zu Betroffenenperspektiven zu rücken. Die durch die Denkfabrik ausgelösten Impulse geben Anlass zur weiteren Auseinandersetzung inner- und außerhalb der AdB Strukturen. Es wurde angeregt, dies auch im Rahmen weiterer Formate fortzusetzen. Den Anfang machen politischbilden.de und Soziale Bildung e.V., die gemeinsame Bildungsbausteine zu Gadje-Rassismus – Rassismus gegen die in den frühen 1990er-Jahren in Rostock-Lichtenhagen lebenden Rom*nja – entwerfen. Eine bisher kaum berücksichtigte Perspektive in der Bildungs- und Erinnerungsarbeit zum Pogrom, die ab Spätsommer online auf politischbilden.de und beim Dokumentationszentrum „Lichtenhagen im Gedächtnis“ zu finden sein wird.