Post-Corona ist Post-Digitalisierung?
Am Ende des Jahres 2021 sind sie wieder da: Die Fragen nach Online-Alternativen für Bildungsveranstaltungen. Dabei war das Anfang 2021 noch nicht abzusehen, war der Wunsch zu einer Rückkehr zur „Normalität” doch groß. Zur Mitte des Jahres entspannte sich die pandemische Lage weltweit, wenn auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie und die Gewöhnung an den Lockdown bei vielen Menschen weiterhin zu spüren waren (vgl. Kaddor 2021). Die Rückkehr zum „gewohnten Betrieb” sorgte für eine Umstellung und auch ein Stolpern. Damit angestoßene Prozesse nicht verloren gehen, sollten im Kreis der Jugendbildungsreferent*innen diese in 2021 verstetigt, gesichert und die Arbeit im Digitalen dokumentiert werden, bevor es zurück in die Präsenzarbeit als Maß der Dinge ging.
„Marty, du musst mit mir zurückkommen!”
Für die Fachgruppe ist die Auseinandersetzung mit Digitalisierung und Demokratie und mit Zugängen zur digitalisierten Gesellschaft als Basis für jugendliche Weltaneignungen oder Chancengleichheit zentral. Dabei sind wir Teil unterschiedlicher Dynamiken: einerseits dem Wunsch der Rückkehr zum „Normalen” – in diesem Falle zurück zur Präsenz –, andererseits dem Wunsch der Entwicklung von neuen Formaten und Angeboten, die in der Pandemiesituation gebraucht werden.
Eines unserer Grundbedürfnisse ist Sicherheit. In Zeiten von wegfallenden Arbeitsplätzen, wechselnden Hygienerichtlinien und einem unbestimmten Ende der weltweiten Coronalage ist Sicherheit bei Gesundheit und Arbeit nicht gegeben. Letztere bestimmt zusätzlich noch darüber, wie wir wohnen und uns wohlfühlen. Dass Menschen sich in so einer Situation wünschen, dass in den Bereichen Arbeit und öffentliches Leben alles so bleibt, wie es war, ist verständlich. Es berücksichtigt aber nicht die Gesundheit und das Wohlergehen sowie damit verbundene Entwicklungsprozesse der gesamten Gesellschaft.
Das erwünschte „Normale“ ist dabei nur ein Gefühl (vgl. Reinecke 2021), das jedoch mit äußerlichen Eindrücken wiederhergestellt werden kann. Vielen geht es dabei um einen Lebensalltag, als dieser noch nicht so stark im Digitalen stattfand. Streamingdienste waren z. B. der Hit im neuen digitalen Alltag. Allerdings erlebten wir auch viele negative Seiten. Wer nicht über die notwendige technische Ausstattung verfügt oder gar Probleme mit seiner Internetanbindung hat, kommt gar nicht erst in den Genuss, die Probleme des Internets zu erleben (vgl. Koerth 2020). Der digitale Referenzrahmen für europäische Bürger*innen, DigComp 2.1, hatte 2017 schon auf einen Mehrbedarf an digitalen Kompetenzen aufmerksam gemacht. Dies hat sich nicht verändert, wie die Digital Skills Gap Studie 2021 zeigt, in der deutlich wird, dass viele Menschen souverän digitale Anwendungen nutzen, aber nur wenige sie verstehen. Gleichzeitig gab es auch genügend Hinweise auf fehlende digitale Infrastrukturen und Ausstattungen im Bildungsbereich. Die Pandemiezeit zeigte hier noch einmal mehr, was schlecht entwickelt war und sorgte damit nicht für ein allgemeines Hochgefühl, trotz durch die Krise beschleunigte digitaler Entwicklungen. Da das Digitale also keine Besserung mit sich bringt, wird der Wunsch nach der gewohnten Sicherheit des Analogen verständlich. Darüber hinaus sind die technischen Probleme nicht die einzigen, mit denen wir im Bildungsbereich durch die Pandemiesituation konfrontiert sind.
Kann denn nicht wenigstens eine*r an die Kinder denken?
Die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit unserer Zielgruppen Kinder und Jugendliche ist katastrophal: Wie die (Online-)Befragung COPSY I + II (Corona und Psyche) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) zeigen, sind psychologische Auffälligkeiten wie Hyperaktivität, emotionale Krankheiten wie Depressionen und Verhaltensprobleme stark angestiegen. Auch psychosomatische Phänomene wie Gereiztheit, Einschlafprobleme, Kopf- und Bauchschmerzen haben zugenommen. Die fehlenden Sozialkontakte und unzureichende Betreuung sind für Kinder und Jugendliche schwer zu bewältigen. Weniger Bewegung, Zunahme des Medikamentenkonsums und mehr Süßes führten zu weiteren negativen psychischen Folgen. Gleiches ergaben die Befragungen der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) für Erwachsene. Arbeit, Haushalt und Kinder gleichzeitig zu stemmen, war für viele eine harte Herausforderung. Das Gefühl, im Homeoffice ständig erreichbar sein zu müssen, führt bei einigen zu zusätzlichem Stress, vgl. hier.
Die Auswirkungen gehen noch tiefer: In der Coronazeit geborene Babys haben Entwicklungsdefizite im motorischen und sozialen Bereich (vgl. Mücke 2022).
Wir hoffen natürlich, dass Menschen wieder mehr in direkten Kontakt miteinander kommen und sich selbst genügend bewegen und gesund bleiben. Gleichzeitig wollen wir als Fachgruppe aber auch fragen, was sich im Bereich der digitalen Bildung verändern könnte.
„Wohin? – Zurück in die Zukunft!”
Die Rückmeldung von Teilnehmer*innen unserer Bildungsveranstaltungen macht deutlich, dass es noch enorme Qualitätsunterschiede bei Online-Veranstaltungen gibt. Online-Kommunikation funktioniert anders als Offline-Kommunikation (vgl. Brodnig 2016). Gleiches gilt auch für Bildungsveranstaltungen. Abgesehen davon, dass es unterschiedliche Lernformen und -typen gibt und sich Frontalunterricht nicht für alle Menschen als beste Methode herausgestellt hat, zeigte sich in unserer Bildungspraxis, dass die Übertragung von Frontalveranstaltungen ins Digitale ohne Anpassung an den digitalen Raum besonders ineffizient ist (vgl. Wößmann et al. 2021). Der Austausch zu politischer Bildung in Online-Formaten (vgl. Krämer 2021) zeigte, dass Teilnehmende interaktiv am besten mitgenommen werden und die besonderen Regeln der Online-Welt in Netiketten mitgeteilt werden müssen. In der Lockdown-Zeit wurde hier viel erprobt, Neues gelernt und Entwicklungen vorangetrieben. Im Wechsel von Online zu Offline blieb jedoch wenig Zeit für die Dokumentation. Der stetige aktuelle Wechsel zwischen Präsenz- und Online-Veranstaltungen macht die Notwendigkeit einer Niederschrift der bisherigen Erkenntnisse besonders klar, aber auch das Fehlen der dafür notwendigen Zeitressourcen.
In der Fachgruppe sind im Spannungsfeld von Kurzarbeit und ständigem Umplanen trotzdem einige Dokumentationen als Arbeitshilfen entstanden. Im Januar 2021 postete das ABC Bildungs- und Tagungszentrum e. V. „Zehn Gebote für Online-Seminare”. Die Stiftung wannseeFORUM entwickelte auf Basis der wannseeFORUM-Respektcharta zum Jahresanfang „Wohlfühl-Seminarregeln“ für ein digitales Miteinander. Die Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein erarbeitete für Online-Fortbildungen das Padlet „Nicht schon wieder Zoom” zu Kommunikationsbesonderheiten des Internets und in der Jugendbildung schon erfolgreich erprobte Online-Tools.
Einige davon, wie z. B. Kahoot-Quiz zur Wissensvermittlung, digitale Whiteboards für kollaboratives Arbeiten oder Videoinputs durch Expert*innen setzten die Mitglieder der Fachgruppe auch schon vor der Pandemie in Präsenzseminaren ein – und werden daran in kommenden On- und Offline-Formaten anknüpfen. Bezugnehmend auf die Studie „Politische Bildung online: all inclusive? Ein- und Ausschlüsse in digitalen Formaten der außerschulischen politischen Bildung – eine Studie aus machtkritischer und intersektionaler Perspektive“ von Dr. Anna Kramer, Fachgruppenmitglied im basa e. V. (Krämer 2021), entsteht dort zurzeit eine Methodenhandreichung zu diversitässensibler Online-Bildung.
Die Selbstverständlichkeit, digitale Tools in Präsenzseminaren einzusetzen, ermöglichte 2020 auch eine schnellere Entwicklung von Online-Formaten und -methoden, die 2021 in Fortbildungen an auch im zweiten Pandemiejahr noch verunsicherte Akteur*innen der Jugendbildung weitergegeben werden konnten, z. B. im hybriden Barcamp politische Bildung durch Inputs von Fachgruppen-Mitgliedern wie „Tür zu, es zoomt!” oder bei eigenen Online-Veranstaltungen wie von der Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein für Multiplikator*innen im pädagogischen Bereich, Fortbildungen der Stiftung wannseeFORUM „Im Zoom: Methoden und Tools für digital gestütztes Lernen während und nach der Pandemie“ – zuerst intern für das pädagogische Team, dann in zwei Veranstaltungen bundesweit. Basa e. V. bot eine Online-Fortbildung „Digitale Tools für die diversitätssensible Online-Bildung” an. Fachgruppenmitglieder wurden vermehrt von Dritten für Wissenstransfer angefragt, z. B. das ABC Bildungs- und Tagungszentrum e. V. für die Deutsche Fußball Liga, den Verein Niedersächsischer Bildungsinitiativen und verschiedene andere Bildungsträger, die JBS Kurt Löwenstein von der Brandenburger Landeszentrale für politische Bildung zum Thema „Digitale politische Bildung im ländlichen Raum” und zu den Kommunikationsbesonderheiten des Internets beim Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag (DJHT). Das wannseeFORUM gab einen Workshop zu Umgang mit Daten und Safe Spaces für vom DEZIM-Institut begleitete „Demokratie Leben”-Projekte. Basa e. V. bot zahlreiche Workshops im Auftrag der Geschäftsstelle der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) zu den Themen „Interaktive Gestaltung von Online-Workshops“ und „Kollaboratives Online-Arbeiten und Netzwerke“ an. Schloss Gollwitz baute als neuen Ort für Wissenstransfer die eigene Bildungsstätte in MineTest/-Craft nach und erarbeitete Konzepte zur Nutzung des Tools für Präsenz-, Hybrid- und Online-Veranstaltungen für die politische Bildung.
Wir sitzen als Bildungseinrichtungen dabei zwischen zwei Stühlen. Einerseits leben unsere Häuser von Belegungen und wünschen sich daher so viele Präsenzveranstaltungen wie nur möglich. Gleichzeitig wurde in den Corona-Jahren viel in den Onlinebereich investiert, neue Technik angeschafft und Online-Veranstaltungen als Formate für bestimmte Zielgruppen und Situationen etabliert. Die fördernden Institutionen wünschen sich daher ebenfalls eine Verstetigung der Online-Arbeit.
Wir haben daher bei der Tagung der Jugendbildungsreferent*innen im November 2021 nachgefragt, wie viele Bildungseinrichtungen weiter planen, Online-Veranstaltungen anzubieten. Innerhalb der Einrichtungen des Programms „Politische Jugendbildung im AdB“ planen elf Einrichtungen weiter Online-Veranstaltungen für das Jahr 2022, davon sieben ebenso Hybridformate. In sechs Einrichtungen werden auch Veranstaltungen insbesondere für Kinder und Jugendliche geplant. Bei elf Einrichtungen, die 2022/2021 etwas für Online-Veranstaltungen entwickelt haben, ist dies ebenfalls dokumentiert, bei vier Einrichtungen allerdings nur intern.
Für die Zukunft von Bildungsveranstaltungen wünschen wir uns kein Online ODER Offline, sondern ein Online UND Offline. Online-Veranstaltungen haben ihre eigenen Vor- und Nachteile und lassen sich als eigenständiges Konzept neben Präsenzveranstaltungen umsetzen. Gleiches gilt für Hybridveranstaltungen, die jedoch für die Verbindung zweier Formate auch den doppelten Aufwand bedeuten.
Online-Formate können für einige Zielgruppen inklusiver sein. Vor allem können sie interaktiver sein und können durch den technischen Rahmen diverse Settings, z. B. „Outer Space“ oder „Hacking Space“, einfacher glaubwürdig umsetzen als in Präsenzveranstaltungen. Diverse Konzepte, die sich mit der Integration von digitalen Medien befassen, können mit Online-Veranstaltungen einfacher verbunden werden, z. B. durch das „Flipped Classroom”-Konzept, bei dem Lernende sich außerhalb der Veranstaltung (zu Hause oder in freien Lernphasen) in ihrem eigenen Tempo die theoretischen und praktischen Grundlagen eines neuen Themas durch Medien aneignen.