Der neue Schwerpunkt sollte eine Kombination werden aus einem bislang wenig beachteten Aspekt im Vielklang öffentlicher Erinnerungen und gleichzeitig den Fokus auf aktivierende Teilhabe von jungen Menschen mit sogenannten Andersfähigkeiten legen, die wir eher selten direkt mit unseren Bildungsangeboten erreichen. Außerdem sollte das Thema Kontinuitäten und Anknüpfungspunkte zu aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bieten.
Die fachliche Expertise einiger Kolleg*innen und die räumliche Nähe der Villa Fohrde zu der Gedenkstätte für die Opfer der "Euthanasie"-Morde in Brandenburg boten eine solide Grundlage, sich dem Thema "Patient*innenmorde im Nationalsozialismus als Herausforderung für politisch-historische Jugendarbeit" zu nähern.
Also planten wir eine gemeinsame Exkursion zur Gedenkstätte und erhofften uns Einblicke in die pädagogischen Programme und die praktische Arbeit vor Ort, um anschließend in unseren Wirkungsgebieten Angebote zu dem Thema umsetzen zu können. An dieser Stelle sei nur kurz erwähnt, dass die Corona-Pandemie dieses Vorhaben in 2020 verunmöglichte und die Fachgruppe sich daher auf eine theoretische Annäherung an das Themenfeld beschränken musste.
Doch bevor wir uns der Auseinandersetzung um die Vermittlung der historischen Aspekte der Patient*innenmorde im Nationalsozialismus konkret zuwenden, stellen wir die Anknüpfungspunkte für die politische Bildung kurz vor. Diese ergeben sich auf vielfältigen Ebenen:
Vor dem Hintergrund der historischen Verantwortung sind wir gefordert, jede Entscheidung und Entwicklung in der Gegenwart genau zu überdenken. Das Thema Euthanasie hat bisher kaum einen breiten gesellschaftlichen Diskurs hervorgerufen. Anders als bei den Themen rund um die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit wie z. B. Antisemitismus, Gadjé-Rassismus, Bildung eines "Volkskörpers" und Etablierung einer faschistischen Ideologie, laufen die Diskurse zum Thema Euthanasie überwiegend in medizinisch-wissenschaftlichen Kontexten.
Ein weitere Ebene der Auseinandersetzung verknüpft sich mit aktuellen Debatten um Sterbehilfe. Die Diskussionen zeigen das rechtliche und moralische Dilemma. Ein Blick in einige europäische Nachbarländer wie die Schweiz, die Niederlande, Belgien und Luxemburg verrät, dass dort verschiedene Variationen von direkter oder indirekter Sterbehilfe gesetzlich erlaubt sind. In Belgien wurde dieses Recht 2015 auch auf Minderjährige und Demenzkranke ausgeweitet. Dies in Veranstaltungen der historisch-politischen Bildung zu thematisieren ist in der Auseinandersetzung mit dem Thema Euthanasie ein wichtiger Bezugspunkt.
Ein weiterer Anknüpfungspunkt: Mit der Frage nach "lebenswertem Leben" müssen sich auch Familien und werdende Eltern auseinandersetzen. Keine Schwangerschaft ohne die Zumutung der Angebotspalette pränataler Diagnostik, die Abtreibungen bei zu erwartenden Behinderungen zu einem Zeitpunkt, zu dem Frühgeborene erfolgreich überleben können, ermöglichen. Selten wird erzählt, dass der Fötus im Mutterleib vorher getötet wird, damit er nicht lebend zur Welt kommt.
Auch die Biometrie und Kriminalantropologie lassen sich in die Tradition des selektiven Blicks stellen. Letztere ist jedoch keine originäre Disziplin der Nationalsozialist*innen, sondern begründet in den Forschungen des 19. Jahrhunderts als Kriminalität zu einem sozialen Phänomen erklärt wurde, zu einer epidemieartigen Krankheit, die den "sozialen Körper" betraf. Bekanntester Vertreter ist der Kriminalanthropologe Cesare Lombroso. Er schuf eine Art Zoologie des Verbrechens und erklärte 1/3 der Taten als biologisch bedingt. Unter anderem versuchte er an körperlichen Merkmalen wie Schädelmaß und -form, zusammengewachsenen Augenbrauen u. v. m., den "geborenen Verbrecher" wissenschaftlich zu beschreiben und für jeden identifizierbar zu machen. Diskutiert werden kann, in wie weit diese Vorstellungen heute noch in den Köpfen der Menschen, in Literatur, Kunst und Medien und nicht zuletzt bei den eigenen Bildern im Kopf zu finden sind.
Dass Politik und Medizin auch aktuell die Frage nach der Bewertung von Leben in den öffentlichen Diskurs stellt, konnte man in den letzten Monaten erleben, als mit dem Begriff der "Triage" die Verteilung der Corona-Erkrankten auf die möglicherweise nicht ausreichenden Intensivbetten diskutiert wurde. Dass für Mediziner*innen und Ethikräte diese Auswahl aber zur Routine gehört, z. B. bei der Vergabe von Organspenden, zeigt das rechtliche und moralische Dilemma noch einmal deutlich.
Doch damit nicht genug. Die möglichen anschlussfähigen Themen könnten ebenfalls lauten: unterlassene Hilfeleistung gegenüber ertrinkenden Menschen auf der Flucht und verweigerte Inklusion auf allen gesellschaftlichen Ebenen.
Im Folgenden wird der Fokus auf die Patient*innenmorde im Nationalsozialismus gelegt, wird die politisch-historische Arbeit zu diesem schwierigen Thema vorgestellt und werden die Leser*innen eingeladen, sich mit der Fachgruppe "Erinnerung und Teilhabe" nach Brandenburg zu begeben.
In der Zeit von 1939 bis 1945 wurden in Deutschland fast 400.000 sogenannte erbkranke Menschen zwangssterilisiert und etwa 300.000 Patient*innen zunächst durch Vergasung in dafür eingerichteten Tötungsanstalten und später durch Vergiftung, Nahrungsmittelentzug, Medikamente sowie verweigerte medizinische Versorgung in "Heil- und Pflegeanstalten" ermordet (vgl. Schmuhl 1987; Bock 2010).
Der Begriff der "Euthanasie", aus dem griechischen für "der gute Tod", wurde von Nationalsozialist*innen als "euphemistisches Synonym für hunderttausendfachen Mord" (Fuchs et al. 2007, S. 15) genutzt. Seitdem ist der Begriff im deutschsprachigen Raum nicht mehr von den nationalsozialistischen Verbrechen zu trennen, im Gegensatz zu einem unbefangeneren Umgang in anderen europäischen Ländern, wie historisch-politische Jugendseminare mit internationalen Teilnehmer*innen zeigen. Der Begriff der Krankenmorde oder Patient*innenmorde hat sich etabliert, um zu benennen, was wirklich geschehen ist: Der Mord von psychisch kranken und geistig behinderten Frauen, Männern und Kindern, die in "Heil- und Pflegeanstalten" lebten.
Mehr als die Hälfte der Opfer waren aufgrund der Diagnose Schizophrenie untergebracht, die zweitgrößte Gruppe bildeten als "schwachsinnig" diagnostizierte Menschen. Darunter fielen jedoch nicht nur lern- und geistig behinderte Menschen, sondern auch psychisch kranke und sozial unerwünschte Personen, die als "asozial" kategorisiert wurden. Die Nationalsozialist*innen deuteten unangepasstes Verhalten vielfach als psychischen Defekt und fassten dies unter den Begriff des "ethischen oder moralischen Schwachsinns" (vgl. Fuchs 2007, S. 61). Bei Kindern spielte wiederum die "Bildungsfähigkeit" eine entscheidende Rolle (vgl. Ley/Hinz-Wessels 2012, S. 54).
Die Planung und Organisation der „Euthanasie“-Morde lief unter der Bezeichnung "Aktion T4", benannt nach dem Ort der zentralen Dienststelle in der Berliner Tiergartenstraße 4. Seit 2014 ist dort ein Gedenk- und Informationsort für die Opfer der "Euthanasie"-Morde öffentlich zugänglich. Innerhalb der "Aktion T4", der zentralen Tötungsphase, wurden in sechs "Euthanasie"-Tötungsanstalten über 70.000 psychisch Kranke und behinderte Menschen in Gaskammern getötet: in Grafeneck (Baden-Württemberg), in Hadamar (Hessen), in Brandenburg an der Havel, Bernburg an der Saale (Sachsen-Anhalt), in Hartheim bei Linz und Sonnenstein in Pirna (Sachsen) (vgl. Berger 2013).
Die Erfahrungen der Täter*innen und das technische Wissen um die Tötungsmethode mit Giftgas waren maßgeblich für die Ermordung der europäischen Juden und Jüdinnen und so wurden Mitarbeitende der "Euthanasie"-Tötungsanstalten später in der "Aktion Reinhardt" in den Vernichtungslagern im besetzten Polen eingesetzt (vgl. ebd., S. 31 ff.). Trotz dieser Dimension und dem seit Beginn der 1990er Jahre verstärkten Interesse an den Opfern nationalsozialistischer Verbrechen, ändert sich nur langsam etwas in der öffentlichen Wahrnehmung und Beachtung dieser Schicksale. Der Autor und Historiker Götz Aly beschreibt dies mit folgenden Worten:
„Die vielen Beteiligten sprachen beschönigend von Erlösung, Lebensunterbrechung, Gnadentod, Sterbehilfe oder eben von Euthanasie. Sie agierten halb geheim, doch inmitten der Gesellschaft. Viele Deutsche befürworteten den gewaltsamen Tod der „nutzlosen Esser“, zumal im Krieg: nur wenige verurteilten das Morden deutlich, die meisten schwiegen schamhaft, wollten es nicht allzu genau wissen. Das setzte sich nach 1945 fort. Nur ausnahmsweise erinnerten sich Familien ihrer ermordeten Tanten, Kleinkinder, Geschwister oder Großväter. Erst heute, nach rund 70 Jahren, löst sich der Bann. Langsam tauchen jene Vergessenen wieder auf, die sterben mussten, weil sie als verrückt, lästig oder peinlich empfunden wurden, weil sie unnormal, gemeingefährlich, arbeitsunfähig oder dauernd pflegebedürftig waren, weil sie ihre Familien mit einem Makel belasteten“ (Aly 2013, S. 9).
Die Biografien und Geschichten der Opfer sind noch immer ein marginalisierter Teil der Erinnerungskultur, nicht zuletzt durch die nach 1945 anhaltende Stigmatisierung von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen – trotz dem seit den 1970er Jahren anhaltenden Kampf um Selbstbestimmung einerseits und Entschädigungsleistung andererseits. Ein weiterer Grund dafür wird auch darin liegen, dass das Gedenken an die Opfer der „Euthanasie“ sich dezentral an den historischen Orten der Krankenmorde, in den Gedenkstätten der ehemaligen Tötungsanstalten genauso wie in den psychiatrischen Nachfolgeeinrichtungen entwickelt hat (vgl. Fuchs et al. 2007, S. 16).
Einer dieser Orte in der Peripherie des offiziellen Gedenkens ist die "Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde Brandenburg an der Havel | Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten" (kurz Gedenkstätte Brandenburg). 2012 auf dem Gelände der einstigen NS-Tötungsanstalt eröffnet, informiert seitdem eine Ausstellung über die Geschichte des historischen Ortes. Dieser liegt mitten im Zentrum der Stadt in den Gebäuden des Alten Zuchthauses, wo 1939 zur Tarnung unter dem Namen "Landes-Pflegeanstalt Brandenburg an der Havel" die Tötungsanstalt errichtet wurde. In nur neun Monaten wurden dort in der Zeit von Februar bis Oktober 1940 über 9.000 Menschen in einer Gaskammer ermordet (vgl. Ley/Hinz-Wessels 2012, S. 15 ff.).
Inklusive Führungen als Gespräch
Die Gedenkstätte Brandenburg bietet neben den klassischen Führungen seit 2017 auch "Führungen als Gespräch" an, die von Menschen mit Lernschwierigkeiten zusammen mit einer Gedenkstättenpädagogin oder einem Gedenkstättenpädagogen durchgeführt und für Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten angeboten werden. Anspruch dieses Projektes ist es, die Beschlüsse der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) umzusetzen und Inklusion nicht nur darin zu verstehen, Menschen mit Lernschwierigkeiten an politischer Bildung teilhaben zu lassen, sondern sie selbst zu Akteur*innen der politischen Bildung zu befähigen. In Kooperation mit der Lebenshilfe Brandenburg-Potsdam e. V. wurden zwölf Menschen über mehrere Monate zu Guides ausgebildet und treten in der Gedenkstätte Brandenburg nun als Expert*innen auf. Damit ist dieses Projekt an Gedenkstätten in dieser Art noch einmalig, ist aber inzwischen zum Impulsgeber für andere geworden. Eine wachsende Zahl an Schulklassen und Jugendseminargruppen nehmen dieses Angebot in Anspruch, wie der Gedenkstättenpädagoge Christian Marx berichtet: "Tatsächlich merken wir, dass diese Führungen bei Schulklassen, von Sekundarschulen zum Beispiel, außerordentlich gut ankommen. Lehrer*innen sagen dann: Ihr macht das gut, aber mit den Guides ist es besser." (Marx/Albrecht 2020)