“Demokratie
braucht
politische Bildung”

Diversitätssensibilität, meine Organisation und ich

Bericht der Fachgruppe „Flucht und Migration“
Programm Politische Jugendbildung im AdB

Wo stehen die Bildungseinrichtungen der Fachgruppenmitglieder mit Blick auf eine Diversitätsorientierte Organisationsentwicklung und welche Schritte müssen gegangen werden, um hier weiterzukommen? Die Fachgruppe „Flucht und Migration“ nutzte die Zeit der Lockdowns, um Bilanz zu ziehen und die eigene Arbeit auf den Prüfstand zu stellen. Zudem wurden neue Formate und Konzepte entwickelt, die helfen, Menschen unterschiedlicher Herkunft und Benachteiligungen besser in Prozesse der politischen Bildung einzubeziehen.

Jugendliche bei Graffiti-Workshop auf Sommercamp „Wieder sichtbar!“
Jugendliche bei Graffiti-Workshop auf Sommercamp „Wieder sichtbar!“, Foto: EJBW

Einen Bericht über Schwerpunkte in 2021 zu schreiben, geht nicht ohne eine Reflexion der durch Corona bedingten Herausforderungen: Unsicherheit im Seminar- und Projektgeschehen ließen Jahreserwartungen relativ schnell in Ernüchterung enden. Lockdown bis in den Sommer hinein, Quarantäne, Isolation oder gar Erkrankung prägten den Herbst und Winter 2021. Treffen wurden geplant, Seminare gebucht, um dann doch größtenteils wieder abgesagt oder kurzfristig verlegt zu werden.

 

Die Fachgruppe konnte die Zeit aber nutzen, um über Alternativen nachzudenken, wie politische Jugendbildung auch jenseits der physischen Zusammenkünfte entwickelt und wie der aktuellen Situation im Rahmen von neu gedachten Methoden und Konzepten Rechnung getragen werden kann. Es entstanden Online-Formate – sowohl digital als auch hybrid – und themenspezifische Webinare. Die dafür notwendige Änderung der Rahmenbedingungen wie die Beantragung und Installation von Konferenztechnik, digitalen Studios und den damit zusammenhängenden Schulungen waren aufwendig, aber effektiv und nachhaltig, auch für kommende Projekte.

 

Wichtig aber war es der Fachgruppe darüber hinaus zurückzuschauen, um die Prozesse im Rahmen einer rassismuskritischen Bildung und Diversitätsentwicklung, die die Fachgruppe vor Beginn der Pandemie anstoßen wollte, nicht aus den Augen zu verlieren und zu vergegenwärtigen. Diese Auseinandersetzung stand ebenso im Zusammenhang mit dem AdB-Jahresthema „Was WEISS ich? Rassismuskritisch denken lernen! Eine Kernaufgabe für Gesellschaft und Politische Bildung“

 

Rassismuskritische politische Bildung und die eigene „Haltungs-Struktur“

 

Seit dem Fachgruppenbericht über das Jahr 2019 lässt sich für den AdB als Verband und ebenso auch für seine Mitgliedseinrichtungen ein wachsendes Interesse an der Auseinandersetzung mit Rassismus, rassismuskritischer Bildung, Diversität und der Abbildung von Pluralität als notwendigen Bestandteil von Demokratie feststellen. Das AdB-Jahresthema 2021, das für 2022 fortgeschrieben wurde, ruft dazu auf, rassistische Wissensbestände zu reflektieren, Rassismus als Strukturprinzip wahrzunehmen und eine rassismuskritische Haltung in der politischen Bildung auszubilden bzw. einzunehmen. Das „bedeutet nicht, dass einfach ,nur' das Seminarprogramm zu antirassistischen Themen in der Bildungseinrichtung erweitert wird. (…). Vielmehr geht es darum, eine rassismuskritische Haltung zu entwickeln – sich immer wieder hierzu weiterzubilden und mit diesem Wissen die eigene Bildungsarbeit insgesamt neu auszurichten“ (Saraswati 2021, S. 15). Die Forderungen gehen sogar noch weiter. „Neben den Haltungsfragen und Kompetenzen auf individueller Ebene geht es bei Rassismuskritik immer auch um Strukturen. So kann nicht von einer rassismuskritischen politischen Bildung einer Einrichtung oder des Verbandes gesprochen werden, wenn nicht auch der Blick auf die Personal- und Gremienbesetzung, Programminhalte, Zielgruppen, Netzwerke und Kooperationen gerichtet wird.“ (Ebd.)

 

Der AdB und seine Mitgliedseinrichtungen beschreiben damit den Kern einer rassismuskritischen Bildung, die eine bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Sozialisation beinhaltet. Bemühungen zum Abbau von Rassismus werden so nicht länger von Selbstreflexion und Eigenverantwortung entlastet. Es geht um die kritische Auseinandersetzung mit Differenz und die Benennung von Privilegien. Und das fängt schon bei der Verwendung bzw. Konnotation von Begriffen an. Ein einfaches Austauschen von eindeutig rassistischen Begrifflichkeiten wie „Rasse“ mit „Kultur“ ändere nichts, solang ein festbestehendes „Anderssein“, z. B. von Schwarzen Menschen zur weißen Dominanzgesellschaft, konstruiert („Othering“) und die innewohnenden rassistischen Diskriminierungsdynamiken geleugnet werden. In rassistischen Strukturen wirkt Weißsein als Dominanzkultur, die in der Mehrheitsgesellschaft zumeist unmarkiert und unbenannt bleibt.

 

„Auch wenn sie in unterschiedlichen Erscheinungsformen auftreten, basieren alle Rassismen[1] auf verwandten Prozessen der Erfindung und Herstellung von Differenz, der Markierung von Differenz und schließlich der Hierarchisierung von Differenz. Damit erfüllen alle diese Rassismen ihre eigentliche und wesentliche Funktion: die Ziehung sozialer Grenzen.“ (Auma 2018, S. 11) Daher stehen die Analyse und Reflexion gegebener Wirkungsweisen solcher Ausgrenzungsmechanismen auch im Mittelpunkt einer rassismuskritischen und darüber hinaus einer diversitätssensiblen politischen Bildung.

 

So weit, so verständlich. Doch wie lassen sich diese Prozesse gestalten?

 

Diversitätssensible Organisationsentwicklung[2] als Toolbox

 

Diversitätssensible Organisationsentwicklung (DO) bietet sich an, um Chancengleichheit intern zu gewährleisten und Benachteiligungen in allen Bereichen präventiv vorzubeugen. Sie kann als Ansatz zur Umsetzung der Diskriminierungsfreiheit im Sinn des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) genutzt werden. DO versteht Vielfalt ganzheitlich, wobei diverse Dimensionen (z. B. Ethnische Herkunft, Alter, Gender, Religion/Weltanschauung, Behinderung, Sexualität etc.) intersektional, veränderbar und für gesellschaftliche Prozesse als unterschiedlich gewichtet, berücksichtigt werden.

 

Für die Institution bedeutet dies, dass tatsächliche Gegebenheiten beachtet, Zugangsbarrieren benannt und der Fokus auf Entwicklungsprozesse zur Förderung von Potenzialen der Mitarbeitenden gelegt werden. „Wenn sich Individuen mit diversen und unterschiedlichen Erfahrungen, Kompetenzen, Begabungen, Prioritäten, Werten, Sicht- und Lebensweisen im Kontext eines systematischen Entwicklungsprozesses entfalten können, erhöht das Eigenverantwortung und aktives Mitdenken“ (RAA 2017, S. 5), lautet dazu die Hypothese. Dort werden folgende Ebenen abgeleitet:

 

  • Entwicklungsprozess
  • Organisationskultur
  • Organisationsstruktur
  • Personal
  • Kommunikation
  • Projekt- und Dienstleistungsentwicklung

 

Die Umsetzung des Prozesses kann finanzielle und personelle Ressourcen erfordern und über Jahre dauern. Es sei daher sinnvoll, (zunächst) einzelne Teilbereiche anzugehen. DO richtet sich somit gleichermaßen an Leitungspersonal und Mitarbeitende. Der ganze Betrieb wird somit in die Verantwortung genommen - so die Theorie.

 

AdB und Bildungsstätten aus einer „diversitätssensiblen Brille“

 

Aus Sicht der Fachgruppe „Flucht und Migration“ lässt sich sagen, dass der Prozess angelaufen ist. Dies lässt sich an den seit zwei Jahren vom Dachverband initiierten Projekten im Zusammenhang mit dem Jahresthema belegen, von welchen auch Einrichtungen innerhalb der Fachgruppe profitieren (vgl. AdB 2021).[3] Zudem begleitet die vom AdB herausgegebene Fachzeitschrift „Außerschulische Bildung“ den Prozess und versteht sich aus unserer Sicht noch viel mehr als zuvor als institutionalisiertes Diskussionsmedium. Und dass das funktioniert, zeigt auch der Beitrag „Schwarz-Weiß-Denken. Kritische Anmerkungen zum AdB-Jahresthema 2021“ von Christian Hesse (2021) und die Reaktionen im Verband, die bis heute damit verbunden sind.

 

Wie sieht es aber konkret mit Veränderungen in den Mitgliedseinrichtungen aus? Hier haben wir uns als Fachgruppe eine „diversitätssensible Brille“ aufgesetzt und folgende Erkenntnisse mosaikhaft zusammengetragen. Dabei orientierten wir uns nicht nur an „Rassismus“ als Diskriminierungskategorie, sondern beziehen weitere „layers of diversity“ (vgl. RAA 2017, S. 4) mit ein:

 

  • In der Fachgruppe sind insgesamt fünf Bildungsstätten vertreten, wobei zwei Einrichtungen dem ländlichen Raum, eine Einrichtung dem mittelstädtischen und zwei Einrichtungen einem großstädtischen Raum zugeordnet werden können. Mit Blick auf Mitarbeiter*innen und Infrastruktur zeichnen sich mindestens drei Institutionen durch eine eher homogene Struktur aus. Die absolute Mehrheit der Beschäftigten hier sind bereichsübergreifend Deutsche ohne Migrationshintergrund, und sie werden weiß gelesen.
  • Auffallend ist, dass viele der Arbeitnehmer*innen aus dem nicht pädagogischen Bereich keine kleinen bzw. betreuungspflichtigen (mehr) Kinder haben. Im pädagogischen Bereich scheint die Situation etwas anders. Die Kategorie „Elternschaft“ wurde gerade in Zeiten von Corona deutlich sichtbarer und kann nicht (mehr) nur als privates „Problem“ wegdiskutiert werden.
  • Zudem lässt sich für einige der Einrichtungen ein Stadt-Land-Gefälle (oder entsprechendes „Bezirksgefälle“) in den Betriebs- & Hierarchieebenen feststellen, d. h. Mitarbeitende in Leitungsstrukturen sowie Pädagog*innen wohnen mehrheitlich im urbanen Raum, Kolleg*innen der Haustechnik, Teile der Verwaltung sowie Küche in ländlichen Gebieten. Auch hier lassen sich Ableitungen für die Organisationsentwicklung treffen.
  • Die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung im Sinne des SGB IX spielt in der Beschäftigtenstruktur der ausgewählten Bildungsstätten lediglich eine rudimentäre Rolle. Auch die Barrierefreiheit der Gebäude ist nicht besonders ausgeprägt. Ob nun aufgrund von Hanglagen oder des Baujahrs der Gebäude – nur wenige Seminarräume und Gästezimmer sind barrierefrei zugänglich. In einer Einrichtung ist dies gar nicht möglich.
  • Insbesondere im ländlichen Bereich ist der Zugang zu Arbeitsplätzen für Schwarze Menschen, Menschen of Color und Menschen mit Migrationsgeschichte schwieriger, da sich Communities als Anziehungspunkt eher in urbanen Gegenden entfalten können. Im gleichen Zuge ist es jedoch auch für Arbeitgeber*innen im ländlichen Raum nicht immer einfach, ein diverses Kollegium aufzubauen, sodass für die zeitlich begrenzte Seminararbeit freie Referent*innen aus den Städten engagiert werden, die 60, 200 oder mehr Kilometer entfernt liegen. Das soll allerdings die Arbeitgeber*innen nicht von der Verantwortung entbinden, ihre Ressourcen für eine entsprechende Veränderung einzusetzen.
  • Die vielerorts installierten Bereiche der internationalen Jugendarbeit, die Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen und die Durchführung entsprechender Projekte (z. B. Train-the-Trainer Angebote) bewirken – egal ob ländlich oder städtisch – zwar eine zunehmende Diversifizierung, ob dies dann tatsächlich in die Struktur eindringt, ist allerdings nicht selbstverständlich.

 

Konkretisierung anhand von Beispielen

 

Im Rahmen des an der Europäischen Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätte (EJBW) angesiedelten Projektes „Migrant*innen als Fachkräfte der Jugendarbeit: Qualifizierung, Empowerment, Bildungsangebote für den ländlichen Raum“ gelang es, befristete Teilzeitstellen für People of Color zu schaffen. Nach zwei Jahren Laufzeit offenbaren sich dabei allerdings Herausforderungen, mit welchen bei einer diversitätssensiblen Organisationsentwicklung zu rechnen sind: Auch Bildungsstätten, die sich auf den Weg gemacht haben, sind nicht frei von Rassismus und nicht alle Kolleg*innen sind gleich bereit, sich vorbehaltlos auf diese Prozesse einzulassen (vgl. dazu den Erfahrungsbericht Alkerdi/Tabiri/Wrasse 2021, S. 66).

 

[1] Antisemitischer Rassismus, Antimuslimischer Rassismus, Antiasiatischer Rassismus, Rassismus gegenüber Sinti & Roma (wenn auch mit unterschiedlichen Zielstellungen).

[2] Vgl. zu den folgenden Ausführungen: RAA e. V. (2017), Diversitätsorientierte Organisationsentwicklung: Grundsätze und Qualitätskriterien. Ein Handlungsansatz der RAA Berlin; Zugriff: 13.04.2022.

[3] Im Praxisbericht von dock europe wird auf eines der Projekte näher eingegangen. Daneben entwickelte u. a. die Bildungsstätte Kaubstraße Podcasts zu antislawischem Rassismus (siehe politischbilden.de), die EJBW konzipierte Workshops für Jugendliche und junge Erwachsene oder der Jugendhof Scheersberg näherte sich der Thematik über Teilhabeseminare, in denen Menschenrechte und Grundrechte, aber auch Abbau von Teilhabehürden zugunsten von marginalisierten Gruppen in den Fokus rückten.

Multiplikator*innen im „Train the Trainer“-Seminar Oktober 2021
Multiplikator*innen im „Train the Trainer“-Seminar Oktober 2021, Foto: EJBW

Erfahrungen mit Rassismus scheinen kein Einzelfall zu sein. Auch der Leiter der Jugendbildungsstätte Kaubstraße weist auf die Herausforderungen bei der Implementierung einer diversitätssensiblen, rassismuskritischen Organisationsentwicklung hin und mahnt an:

 

„Es reicht eben nicht, Seminare zum Thema Diversity und Rassismus anzubieten (…). Um wirklich rassismuskritisch zu agieren, müssen wir alle Bereiche dahingehend analysieren und ggf. verändern – Inhalte, Formate, Strukturen, Abläufe, Personal und persönliche Haltungen. Die Begleitung einer rassismuserfahrenen Coachin in diesem Prozess ist ebenso Bestandteil unseres Weges im Bereich der Bildungsstätte wie zahlreiche Fortbildungen, die in den vergangenen Jahren zu verschiedenen Themen mit den Kolleg*innen der Pädagogik, aber auch der Verwaltung und Hauswirtschaft stattfanden.“ (Wylezol 2021, S. 69).

 

Diversitätsorientierte Organisationsentwicklung geht allerdings über Antirassismus hinaus, wie die Debatte über gendersensible Toiletten im Gustav Stresemann Institut Bad Bevensen zeigt. Hier wurde seitens der Teilnehmenden der Wunsch deutlich, öffentlich zugängliche Toiletten gendersensibel zu bezeichnen, d. h. zumindest beim Teil der Infrastruktur auf die sonst stark verbreitete binäre Aufteilung der Toiletten in „weiblich“ und „männlich“ zu verzichten. Die Diskussion um dieses Thema war in der Einrichtung ein komplexer und mehrschichtiger Prozess. In einem Aspekt der Diskussion ging es um die bauliche Infrastruktur: Müssen die Toiletten nun umgebaut werden, um als gendersensibel bzw. unisex zu gelten? Kann sich das die Einrichtung finanziell und personell überhaupt leisten? Schnell schwebte dabei die Frage mit, ob es nicht wichtigere Bereiche im Haus gibt, um die man sich vorrangig kümmern muss, denn letztlich wäre das der Wunsch einer Minderheit der Teilnehmenden, so die Vermutung.

 

Nach einigen Diskussionen und Absprachen im Haus konnte jedoch eine Lösung gefunden werden, die es erlaubte, die vorhandene Infrastruktur ohne bauliche Veränderungen zu nutzen. Mittels einer entsprechenden Bezeichnung konnten die bislang vorrangig als männlich bzw. weiblich genutzten Toiletten als unisex umdefiniert werden, indem sie mit einem entsprechenden Schild als „All Gender Sitztoilette“ bzw. „All Gender Stehtoilette“ bezeichnet wurde. Die Frage nach der Auswahl der entsprechenden Schilder war auch keine unkomplizierte, weckte viele Emotionen und Bedenken. Es war jedoch ein insgesamt fruchtbarer Prozess, in dem die Mitarbeiter*innen über Meinungsdifferenzen zu einem produktiven Ergebnis gekommen sind. Auch diesmal wurde klar, dass die Mehrheit nichts verliert, wenn sie die Bedürfnisse der Minderheit stärker berücksichtigt bzw. ihnen Raum gibt.

 

Diversitätssensible Organisationsentwicklung muss dementsprechend nach innen wirken. Dass sich die Bildungshäuser der Fachgruppe selbstredend auch in der Angebotsstruktur nach außen diversitätsorientiert ausrichten, verstehen wir als Selbstverständlichkeit, wobei auch hier nachgearbeitet und aufgeholt werden muss. Angefangen bei vermeintlich Profanem wie der Verpflegung.

 

Auf in die Mühen der Ebene!

 

Dass ein rassismuskritisches und diversitätssensibles Hinterfragen der eigenen „Zusammensetzung der Mitarbeitenden, der Teilnehmenden, die Gestaltung der Öffentlichkeitsarbeit etc.“ (AdB 2021, S. 12) einen langen Atem braucht, lässt sich nicht verschweigen. Ein auch vom Leitungspersonal gewolltes „Auf den Weg machen“ wurde initiiert. Mit Brecht lässt sich jedoch konstatieren: „Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns, vor uns liegen die Mühen der Ebenen.“

 

Luft nach oben gibt es zudem in der Seminarpraxis bzw. den Methoden. Bildende Angebote, die Perspektiven und Wissensbestände marginalisierter Gruppen fokussieren und diese als Zielgruppen und Adressat*innen erfassen, sind noch recht rar. So sind viele Angebote bspw. zur Thematisierung von Rassismus auf die Befähigung weißer Zielgruppen ausgerichtet und lassen Empowerment und Handlungssicherheit rassismuserfahrener Zielgruppen außer Acht. Manche Methoden (z. B. Ein Schritt vorwärts/ Step forward, Zugriff: 11.04.2022) greifen z. B. die Rassismuserfahrungen von Teilnehmenden auf, um weiße Beteiligte zur Reflexion ihrer Privilegien anzuregen. Auch das muss uns bewusst sein.

 

Marginalisierte und marginalisierungserfahrene Zielgruppen benötigen geschützte Räume zur Bewältigung der persönlichen Erlebnisse und Bestärkung (Empowerment). Im Anschluss an das Bewusstwerden von Privilegien der Dominanzkultur einer Einrichtung ist diese auch für einen „Nachteilsausgleich“ verantwortlich (Powersharing). Hier geht es um ein aktives Abgeben von Macht (z. B. Etabliertenvorrechte). Empowerment und Powersharing sind notwendig für eine solidarische wie rassismuskritische Bildungspraxis.

 

Was wir in Bezug auf die Struktur und Kultur noch tun können

 

Wir müssen eine Atmosphäre schaffen, in der Dinge klar benannt werden können, die die Beschäftigten aber auch mitnimmt. Dabei spielt Kommunikation eine zentrale Rolle. Es muss Leitenden und Beschäftigten gelingen eine Kommunikationskultur zu schaffen, die die Begriffe Vertrauen, Respekt, Ehrlichkeit, Fehlerkultur sowie Klarheit und Transparenz (auch in Bezug auf Macht) sowie die Ziele, wo es hingehen soll, einrahmt.

 

Die Mühen der Ebene bedeutet, Muster aufzubrechen. Der Sozialpsychologe Harald Welzer konstatiert, dass sich das gegen unser erlerntes Verhalten richtet. Bevor wir Verhalten als Personen ab einem Alter von 3–4 Jahren mehr oder weniger bewusst „erlernen“ oder „verinnerlichen“, „erleben“ wir es von Beginn an durch unsere soziale Umwelt. In Anlehnung an den Anthropologen Bradd Shore spricht Welzer dabei von „Culture in Mind“ (2021, S. 134 f.). Strukturen werden von Beginn an determiniert, seien aber auch „erfahrungsoffen“. Auch das muss berücksichtigt werden.

 

„Corona darf nicht als Entschuldigung dienen, sich als Bildungsstätte nicht weiterzuentwickeln, jedoch haben wir gemerkt, dass in den vergangenen zwei Jahren aus einem ursprünglichen Team Einzelkämpfer*innen im Homeoffice geworden sind. Dieser Teamspirit muss zurückgewonnen werden“, so ein Kollege aus der Fachgruppe weiter, „um nicht nur den eigenen Arbeitsbereich, sondern auch die Bildungsstätte als Ganzes weiterzuentwickeln“.

 

Zurückzuschauen, um die Zukunft zu bauen, heißt nicht, alter Wein in neuen Schläuchen, sondern Zukunft neu denken. „Die Welt ist nicht aus den Fugen geraten, wohl aber in Bewegung. Die Welt ist sich nähergekommen und zusammengewachsen. Zusammenwachsen tut weh. Insbesondere, weil sich Ordnungen beim Zusammenwachsen neu bilden müssen.“ (El-Mafaalani 2020, S. 209)

 

Die Vertreter*innen der Fachgruppe „Flucht und Migration“ müssen (weiter) Angebote entwickeln bzw. verbessern. Dazu gehören Ansprachekonzepte für Mitarbeitende, dazu gehören Kommunikationsstrukturen, die zum vertrauensbildenden, ehrlichen und respektvollen Dialog einladen und dazu gehören Schutzräume für Mitarbeitende mit Diskriminierungserfahrungen, die von allen Mitarbeitenden anerkannt sind. Ob dies ein*e Diversifizierungsbeauftragte*r oder eine ganze Ombudsstelle ist, sei mal dahingestellt. Wichtig ist, dass die Kolleg*innen bereit sind, unabhängig der konkreten Marginalisierungserfahrung auf diese Person/Stelle zuzugehen. Diese Kultur der Zusammenarbeit verbunden mit gemeinsamen „Teamevents“ kann das Zusammenwachsen und die „Neubildung“ von Strukturen befördern.

 

Literatur

AdB (2021): Was WEISS ich? Rassismuskritisch denken lernen! Eine Kernaufgabe für Gesellschaft und Politische Bildung. Berlin: AdB; (Zugriff: 13.04.2022)

Alkerdi, Siwan/Tabiri, Gifty Nyame/Wrasse, Eric (2021): Bildungsstätten – rassismusfreie Räume? In: Außerschulische Bildung, Heft 2/2021, S. 65–69

Auma, Maureen Maisha (2018): Rassismus: Eine Definition für die Alltagspraxis. Berlin: RAA; (Zugriff: 14.04.2021)

El-Mafaalani, Aladin (2020): Das Integrationsparadox. Warum gelungee Integration zu mehr Konflikten führt. Köln: Kiepenheuer & Witsch

Hesse, Christian (2021): Schwarz-Weiß-Denken. Kritische Anmerkungen zum AdB-Jahresthema 2021. In: Außerschulische Bildung, Heft 2/2021, S. 53–56

RAA e. V. (2017): Diversitätsorientierte Organisationsentwicklung: Grundsätze und Qualitätskriterien. Ein Handlungsansatz der RAA Berlin. Berlin; (Zugriff: 13.04.2022)

Saraswati, Narmada (2021): Rassismuskritische politische Bildung. Was bedeutet das für den Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten? In: AdB (Hrsg.): Was WEISS ich? Rassismuskritisch denken lernen! Eine Kernaufgabe für Gesellschaft und Politische Bildung, Berlin: AdB; (Zugriff: 13.04.2022)

Welzer, Harald (2021): Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens. Frankfurt am Main: S. Fischer

Wylezol, Roland (2021): Auf dem Weg (?) … zu einer rassismuskritischen Bildung(sstätte). In: Außerschulische Bildung, Heft 2/2021, S. 67–70

 

Bericht aus der Praxis

„knowledge is power“ – dock europe meets Asmaras world

Lern- und Praxisprojekt für gesellschaftliche Teilhabe

Foto: dock europe e. V.

Das zweiteilige, insgesamt siebentägige Projekt fand statt in Kooperation mit dem gemeinnützigen Verein Asmaras world, benannt nach Eritreas Hauptstadt.

 

Seit circa einem Jahr verfügt der Verein über Räumlichkeiten in Hamburg Altona, 20 Minuten fußläufig vom Bildungszentrum dock europe entfernt. Neben Beratungsangeboten und Erstorientierungskursen für junge, meist unbegleitete Geflüchtete in Ankommensprozessen, ist der Ort Anlaufstelle und Treffpunkt für die Vernetzung und (Selbst-)Organisierung von bildungspolitischen Aktivitäten – lokal und überregional.

 

Gründerin des Vereins ist die Hamburger Sozialarbeiterin und Rapperin Asmara Habtezion. Sie und ihre ehrenamtlichen Mitstreiter*innen setzen sich neben praktischer Unterstützung ein für die Wissensvermittlung und Auseinandersetzung mit demokratischen Werten, Menschenrechten und Möglichkeiten der Teilhabe. „Knowledge is power“ ist in ihrer Arbeit Programm und Vernetzung das A und O, um Synergien zu nutzen und gemeinsam Projekte auf die Beine zu stellen, die auch Jugendlichen zugutekommen, die isoliert in Unterkünften leben und wenig Perspektiven der gesellschaftlichen Teilhabe sehen bzw. nicht kennen.

 

Integration des Ausnahmezustands

 

Aufgrund der Corona-Pandemie und den wechselnden hygienischen Anforderungen war lange nicht klar, ob wir das Anfang 2021 angedachte Vorhaben in der Form noch im selben Jahr durchführen konnten. Es sollte unbedingt ein Format mit Übernachtungen im Bildungszentrum werden, um den Teilnehmenden – viele von ihnen leben in Gruppenunterkünften für Asylsuchende – zu ermöglichen, zusammenzukommen und neben formellen Momenten in informellen Zeiten eine kleine Auszeit vom Alltag zu haben- generell und insbesondere in Zeiten von Corona und den potenzierten Erfahrungen der Isolierung.

 

Bevor dann erneut der Winter mit möglichen Lockdowns drohte, entschieden wir recht spontan, ein verlängertes Wochenende im Oktober anzupeilen. Dies vor dem Hintergrund, dass Asmara Habtezion im regelmäßigen und guten Kontakt vor allem per Telefon und Messenger zu den Teilnehmenden steht und kurzfristig alles in Bewegung gesetzt hatte, um die Anmeldungen in Windeseile zu konkretisieren.

 

Die insgesamt 24 Jugendlichen/jungen Erwachsenen zwischen 17 und 25 Jahren setzten sich zusammen aus mehreren kleinen peer-groups, die sich bereits länger kennen sowie einzelnen Teilnehmenden, die teils erst seit kurzer Zeit Kontakt zum Verein „Asmaras world“ haben.

 

Raus aus dem Kopfkino …

 

Bei der Zusammenstellung des Programms haben wir darauf geachtet, dass den Teilnehmenden neben formellen Zusammenkünften in Form von Workshops viel Zeit blieb für gemeinsame Stadtentdeckungen und den Austausch untereinander, dass es viele Momente von Leichtigkeit und Entspannung gab. Dies einmal mehr bedingt durch die aktuelle Situation, die die Pandemie mit sich bringt. Die Teilnehmenden haben im Alltag ohnehin mit vielen Belastungen zu kämpfen, die größtenteils mit ihrer Fluchtbiografie und deren Folgen zu tun haben. Die Auszeit in Verbindung mit der Möglichkeit, sich mit denen für sie wichtigen (politischen) Themen zu beschäftigen, im sicheren Rahmen auszutauschen, inhaltlich und methodisch weiterzubilden, führte zu einer konstruktiven Gruppendynamik. Die Bereitschaft sich aktiv zu beteiligen und miteinander zu arbeiten, war (und ist) groß.

 

… rein in die Selbstwirksamkeit

 

Neben körperlich bewegten Empowerment-Workshop-Einheiten zum Thema Resilienz und Body Awareness beschäftigten sich die Teilnehmenden mit der Idee von politischer Bildung und ihrer eigenen Rolle darin. Eigene Anliegen „verstärkt“ zu Gehör bringen, konnten sie im Workshop „Speak up! Sprache und Rap“ erproben.

 

Die Atmosphäre während des gesamten Projektes war geprägt von Offenheit, Fehlerfreundlichkeit und gegenseitigem Wohlwollen. Auf die Frage im Auswertungsbogen „Nach diesem langen Wochenende fühle ich mich …“, wurden von den Teilnehmenden ohne Ausnahme positive Auswirkungen benannt wie z. B. „Ich fühle mich so wohl, man hat viele Dinge gelernt, die für mich wichtig sind und was mich betrifft.“ „Herrlich. Entspannter, motiviert, etc.“ „Sehr glücklich und lebendig“.

 

Auch die Antworten auf die Frage „Was ich zuhause als erstes erzähle …“ lassen vermuten, dass die Teilnehmenden die gemeinsame Zeit genossen haben: „Das wir ganz verschiedene Menschen sind und ganz viele Nationalitäten waren (alle akzeptiert hatten)“. „Wie wir als Gruppe gearbeitet haben“.

 

Um sprachlich alle Teilnehmenden angemessen mitzunehmen, wechselten wir ab zwischen Großgruppe im Plenum und kleineren (Sprach)gruppen. Ergebnisse trugen wir im Plenum zusammen und visualisierten diese so gut es ging. Hierbei war es eine große Herausforderung, auch komplexe Inhalte wie begriffliche Definitionen und Erklärungen in verständliche und leichte Sprache umzusetzen. Dieses Dilemma begegnet uns immer wieder in Kursen mit mehrsprachigen Teilnehmenden und hat zur Folge, dass wir vielmehr Zeit und Geduld im Ablauf einplanen als gemeinhin und Inhalte entsprechend übersichtlich gestalten müssen, um Frustrationen zu vermeiden.

 

Sprachen rahmen

 

In der Regel ist die Arbeitssprache in unseren Seminaren deutsch. Wenn einzelne Teilnehmende über wenige Kenntnisse verfügen, haben wir meist darauf vertraut, dass sich die Teilnehmer*innen untereinander mit Sprachmittlungen aushelfen. Zugleich aber wissen wir auch um die kognitive und damit einhergehende körperliche Anstrengung, die aufgebracht werden muss, wenn Menschen sich Inhalte in einer neuen Sprache aneignen sollen/möchten und darüber hinaus andere Teilnehmende gefordert sind, zu unterstützen, obwohl auch sie gern „nur“ Teilnehmende wären und schon im Alltag häufig aushelfen müssen.

 

Wir haben daher für die formellen Zeiten kurzum geschulte Sprachmittler*innen aus dem Netzwerk von Asmaras world organisiert und finanziert, Tigrinya, Arabisch und Dari/Farsi zu dolmetschen. Damit waren die Sprachhauptgruppen der Teilnehmenden abgedeckt, die in der Regel bei Einsätzen von Sprachmittlungen nicht berücksichtigt werden. Zum Einsatz kamen neben Deutsch noch Englisch und Spanisch.

 

Asmara Habtezion selbst spricht und dolmetscht ebenfalls Deutsch und Tigrinya und hat es sehr geschätzt, dass (bezahlte) Sprachmittlung möglich gemacht wurde. Dies betonte sie besonders, weil bei der Umsetzung von Projekten mit Jugendlichen in der politischen Bildungsarbeit die sprachlichen Barrieren tiefergehende Beschäftigung mit Themen erschweren. Auch die Teilnehmenden bezogen sich in der Auswertung auf den Einsatz der Sprachmittler*innen und bestätigten, dass sie dadurch besser folgen und auch unbekannte Worte (z. B. aus dem Bereich Projektentwicklung, Asyl und Menschenrechte) erfassen konnten.

 

Zusammen weiter – bilden und spinnen

 

Deutlichstes Ergebnis des zunächst viertägigen Seminars war der Wunsch nach Fortsetzung, nach noch mehr gemeinsamer Zeit an geschützten Orten, die kurzzeitig die Sorgen im Alltag vergessen lassen. Die Teilnehmenden wollten sich weiter austauschen, voneinander und miteinander lernen, sich solidarisch aufeinander beziehen und gemeinsam Projekte entwerfen bzw. mittelfristig umsetzen. 

 

Dank der pandemiebedingt aufgestockten Kursmittel des AdB konnten wir diesem Bedürfnis tatsächlich im Dezember 2021 mit einem weiteren Wochenendseminar nachkommen. Insbesondere stand hier die Auseinandersetzung mit Menschenrechten und die Frage: „Politische Bildung selber machen: wie geht das?“ im Vordergrund.

 

Dazu Stimmen der Teilnehmenden auf die Frage „Was mir besonders gut gefallen hat …“: „Dass wir über Politik geredet haben und was mich betrifft“, „Dass wir zusammenarbeiten, Film gucken, Essen kochen, Gemeinsamkeit.“, „dass wir alle verschiedenen Menschen an einem Tisch gesessen und gegessen haben und über verschiedene Themen sprechen können, die uns für unsere Zukunft weiterbringt.“ „Alle zusammen vereinen“, „Die Workshops und die Informationen, die wir bekommen haben“.

 

Es wurde deutlich, dass die gemeinsamen Sequenzen des Miteinanders, des gemeinsamen Essens und Diskutierens einen hohen Stellenwert für die Jugendlichen hatten. Die ausgelassene Stimmung unter den Teilnehmenden war ansteckend und die Freude spürbar, an diesen Seminaren teilnehmen zu können, endlich wieder Momente in Präsenz zu erleben und Unterstützung bei der Verwirklichung eigener Ideen zu bekommen. Der Bedarf ist groß. Wir freuen uns, dafür auch 2022 Räume öffnen zu können!

 

Urte Bliesemann, Internationales Bildungszentrum dock europe

 

Bericht aus der Praxis

„Wo willst du hin?“ – Auf dem Weg in die digitale Welt

Aufnahme der Dialoge
Foto: Internationale Bildungsstätte Jugendhof Scheersberg, Malte Morische

Die Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek hat während der Corona-Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 einen Digitalen Masterplan erstellt. Hiernach sollen Kultureinrichtungen dabei finanziell unterstützt werden, einen Innovationsimpuls zu bekommen und Rahmenbedingungen für digital-analoge Angebote zu schaffen. Die Internationale Bildungsstätte Jugendhof Scheersberg, angesiedelt im deutsch-dänischen Grenzgebiet, hatte bereits in der Vergangenheit Bedarfe identifiziert, moderne und jugendorientierte Trends aufzugreifen und in ihre Angebotsstruktur zu überführen; es mangelte allein an Finanzierungsmöglichkeiten.

 

Neueste Medien wie Computer, Smartphones und Tablets ermöglichen hier den interaktiven Austausch via Internet. Content producing und consuming nimmt bei vielen jungen Menschen einen höheren Stellenwert ein. Instagram, TikTok, YouTube und Twitch bieten viele Möglichkeiten, sich selbst und auch Anliegen darzustellen. Um diese neuen Kanäle nicht unbegleitet zu lassen und einen verantwortungsvollen Umgang damit zu erlernen, hat es sich der Scheersberg zur Aufgabe gemacht, hierfür Raum zu schaffen. Die pandemiebedingten Seminarpausen (zumindest in Präsenz) nutzte das Scheersberg-Team, um mithilfe des Fördertopfs der Landesbibliothek ein Multifunktionsaufnahme- und Streaming-Studio zu bauen. Die räumlichen Kapazitäten sind begrenzt, und dennoch wurde in einem Seminargebäude ein Ort gefunden, der mit Fantasie und handwerklichem Geschick nun einen Aufnahme- und einen Regieraum beherbergt. In diesen können nun Kleingruppen von zehn bis 12 Personen ihre Medienprojekte verwirklichen. Die Entwicklungsphase des sogenannten Digital-Labors nahm dabei viel Zeit in Anspruch, sollte es doch multifunktional sein und die unterschiedlichsten Bedarfe aufgreifen. Als Settings sahen wir Hörspiel, Podcast und Musik für den Audiobereich als erforderlich an, für den filmischen Bereich waren die Settings von Vlogs, Lesungen, Vorträgen, Podiumsdiskussionen aber auch Online-Seminaren angedacht. Die Schwierigkeit besteht darin, dass sich professionellere Studios entweder auf das eine oder das andere fokussieren, und wir dagegen die Kompatibilität gewährleisten wollten.

 

Bauen, schulen, konzipieren – Ein langes Jahr der Tüftelei

 

Die akustische Trennscheibe zwischen Regieraum und Aufnahmeraum mittels Durchbruchs war von Tischlerei und Hausmeisterei zügig vollzogen worden. Die Anschaffung und Installation von auf sich abgestimmten Geräten wie Mischpulten, Beleuchtung, Kameras, unterschiedlichen Mikrofonen, Computer und Software stellte jedoch die größte Hürde dar, die nach Beratung von freischaffenden Mediengestalter*innen innerhalb eines Jahres genommen wurde. Wenn wir ehrlich sind, so wäre es im laufenden Betrieb unserer Bildungsstätte kaum möglich gewesen, dieses Studio zu installieren. Zurückschauend ist der zeitweise Seminarstillstand also nicht ausschließlich negativ zu betrachten, hat er doch Kapazitäten geschaffen, solch ein Projekt zu verwirklichen und Seminarstandards zu modernisieren.

 

Nachdem im Dezember des Jahres 2021 interne Schulungen unserer pädagogischen Mitarbeiter*innen durchgeführt wurden, damit die Vorteile dieser medialen Neuerung nicht ungenutzt blieben, wurden erste Seminarkonzepte erstellt, die auch dank des Bundesprogramms „Aufholen durch Corona“ realisiert werden sollten. Vielfach schwebte der Slogan „Jungen Menschen eine Stimme geben“ über den erdachten Projekten. Wir müssen unseren Arbeitsauftrag in der politischen Jugendbildung nicht mit der Annahme beginnen, dass wir Themen für junge Menschen platzieren und schmackhaft machen müssen, sondern vielmehr, dass junge Menschen bereits die sie bewegenden Themen in sich tragen, Sorgen und Bedürfnisse haben. Was wir als politische Bildner*innen beitragen können, ist, diese Themen zu sortieren und zu kanalisieren, mit ihnen gemeinsam Kompetenzen zu erarbeiten, für sich und ihre Umwelt urteils- und handlungsfähig zu sein und ihnen in ihren Anliegen auf Augenhöhe zu begegnen.

 

Teilhabemöglichkeiten über die politische Medienbildung zu fördern, moderne Angebote möglichst erschwinglich, wenn nicht sogar kostenfrei zu gestalten, und auch Alternativen im Setup zu bieten, so dass jede*r Teilnehmende es auch über frei zugängliche Bordmittel zum Beispiel des Smartphones zuhause weiternutzen kann, das sind die Prämissen, die wir in unserer Bildungsarbeit verwirklichen wollen. Zugänge schaffen und jungen Menschen eine Stimme geben. Früher habe ich dieses Vorgehen als „politische Bildung durch die Hintertür“ verstanden, den Fokus auf Medien zu setzen und dann unterschwellig Themen zu platzieren. Denn politische Bildung war bei jungen Menschen früher als frontal, trocken und uninteressant verschrien. Mit den letzten drei Jahren im JProgramm „Politische Jugendbildung des AdB“ habe ich als später dazugekommener Bildungsreferent immer mehr verstanden, dass diese Hintertür für junge Menschen die einzig relevante Tür ist und damit eben Hauptzugang. Folglich bin ich es, der seine Perspektive ändern und zulassen musste. Mit unserem neuen Digital-Labor können wir nun Lebenswelten aufgreifen, konservieren und weitertragen.

 

Das erste Medienseminar im neuen Digital-Labor

 

Die Hörspielwerkstatt „Ankommen“, die Anfang März 2022 mit einer zehnköpfigen Gruppe uraufgeführt werden konnte, ist ein Beispiel, wie das gelingen kann. Bei der Themenwahl wollte ich unterschiedliche Teilnehmende gewinnen. „Ankommen“ kann das physische Ankommen bedeuten, es kann aber auch das seelische Ankommen in Form von Erkenntnis oder Reife bedeuten. Der Begriff birgt so viel Assoziationspotenzial, dass er Menschen aller Altersklassen und Erfahrungsdimensionen ansprechen kann. Das Alter der Teilnehmenden lag zwischen 13 und 26 Jahren. Mittlerweile und insbesondere aufgrund der geringen Teilnahmegebühr von 25 € für ein Wochenendseminar, spricht das Angebot auch junge Menschen an, die sich viel mehr nicht leisten könnten. Auch unterschiedliche Nationalitäten wie Syrien und Afghanistan waren vertreten. Und gerade diese Zusammensetzung war erhofft.

 

Nach Kennenlernen und Warm Up-Spielen wurde das Thema der Werkstatt aufgegriffen. Die kleine Gruppengröße unterstützte die vertrauensvolle Atmosphäre, in der sich jede*r Teilnehmende offen mitteilen konnte. Von den jüngeren Teilnehmenden wurden Themen wie Mobbing und Diskriminierung angesprochen: der*die Neue in einer etablierten Gruppe zu sein und als fremd wahrgenommen zu werden, war allen Teilnehmenden herkunftsübergreifend ein bekanntes Gefühl. Herausgerissen zu werden aus einem sozialen Gefüge aufgrund von Umzug oder Krieg und Verfolgung, ist für die meisten Menschen ein steiniger Weg. Den Erfahrungen der Teilnehmenden wurde mit Neugier und Anerkennung begegnet. Allein der Austausch barg schon großes Potenzial für Hörspielgeschichten.

 

Um den Teilnehmenden vor Augen zu führen, was ein Hörspiel ist, durften sie mit Audiorekordern das Gelände erkunden und Geräuschkulissen zu verschiedenen Szenen aufnehmen. Dabei half die Erklärung: Ein Hörspiel ist wie ein Film für die Ohren. In Deutschland gibt es nämlich eine Hörspiel-Kultur, ja Hörspiel-Industrie. Es ist hier schwer, Menschen zu finden, die nicht mit Hörspielen wie Benjamin Blümchen, Bibi Blocksberg, Die Drei ??? oder TKKG aufgewachsen sind. Anders verhält es sich zumeist in Ländern wie Syrien oder Afghanistan, wie die Teilnehmenden berichteten. Entsprechend interessiert und engagiert sogen die jungen Menschen unsere Inputs zu Sprechtrainings, Storytelling und Scriptwriting auf; erste Ideen sprudelten, wobei sich zwei Gruppen eigenständig herausbildeten. Eine jüngere Gruppe von 13- bis 16-Jährigen formierte sich, die unbedingt eine Geistergeschichte machen wollte: Umzug in ein neues Haus, das ein Eigenleben hatte. Die ältere Gruppe hatte sich auf die Darstellung einer Flucht übers Meer verständigt und wollte persönliche Erfahrungen einbinden. Ein Skript wurde geschrieben, rückbesprochen und auch mögliche Gefahren bei der Gestaltung dieses Hörspiels diskutiert.

 

Das Drama einer gescheiterten Flucht nach Europa, die unterlassene Hilfeleistung von vorbeifahrenden Schiffen sollten nach Meinung der Gruppe auch für diejenigen emotional erfahrbar gemacht werden, die bislang nur einen distanzierten Blick auf Fluchterlebnisse haben konnten. Aber auch die Fürsorgepflicht des begleitenden Teams griff so weit, dass bewusstgemacht wurde, was die explizite und an Emotionen orientierte Darstellung eines Schiffsunglücks mit einhergehendem Tod auslösen kann. Traumatisierung der Sprecher*innen, aber auch der Zuhörenden kann schwer an einem Wochenendseminar aufgefangen werden, weswegen sich die Gruppe auf Richtlinien verständigte: Jede*r Teilnehmende hat das Recht, den Gestaltungsprozess jederzeit zu unterbrechen oder in Gänze abzubrechen, das Gespräch mit dem Team zu suchen, das bedingungslos 24 Stunden erreichbar war. Es wurden Meilensteine eingebaut, in denen sich der Verfassung aller Gruppenmitglieder versichert und alternative Gestaltungsmöglichkeiten diskutiert wurden. Einer der Teilnehmenden mit Fluchterfahrung nahm von diesem Recht Gebrauch und zog sich gleich zu Anfang aus dem Prozess zurück. Der Rest der Gruppe verteilte Sprechrollen und nahm die Dialoge mit Unterstützung der anderen Gruppe im Digital-Labor auf. Zeitweise waren zehn Menschen im Aufnahmeraum, deren Stimmen im Schnittprozess vervierfacht wurden, um den Eindruck einer Gruppe aus 50 Flüchtenden entstehen zu lassen.

 

Bei den Medienseminaren in freier Ausschreibung endet das Tagesprogramm meist um 20 Uhr; danach haben die Teilnehmenden Freizeit. Unsere Teilnehmenden haben jedoch freiwillig bis spät in die Nacht noch an ihren Werken geschnitten, alle Funktionen der Digital Audio Workstation (DAW) ausprobiert, Effekte bearbeitet und waren kaum noch zu bremsen. Während die Jüngeren in ihrer Freizeit im Studio noch Beats bastelten, spontane Gitarrenkonzerte stattfanden und gemeinsam gesungen wurde, kam die Flucht-Hörspielgruppe erst spät ins Bett. Dafür waren am letzten Tag beide Hörspiele auf den Punkt fertig. In einer abschließenden Runde wurden sie allen Teilnehmenden präsentiert. Beide Hörspiele führten auf ihre eigene Weise zu Gänsehautmomenten. Nach eindringlichem Schweigen wurde auf die Machart beider Werke eingegangen. Was lösen sie beim Zuhören aus? Die Diskussion mündete in die Formulierung einer Triggerwarnung bei Veröffentlichung des Hörspiels zum Thema Flucht:

 

„Das Hörspiel enthält eindringliche und dramatische Szenen einer Flucht über das Meer, die einige unserer Teilnehmenden tatsächlich erlebt haben und hier annähernd authentisch verarbeiten.“

 

Das Hörspiel „Wo willst du hin?“ hat eine Länge von 3:20 Min. und ist zu finden auf Soundcloud.com unter der URL: https://tinyurl.com/scheersberg-ankommen (evtl. kann ja die Soundclouddatei direkt auf der Homepage eingebettet werden?)

 

Malte Morische, Internationale Bildungsstätte Jugendhof Scheersberg

 

Mitglieder der Fachgruppe „Flucht und Migration“

 

Kerem Atasever

Alte Feuerwache e. V. – Jugendbildungsstätte Kaubstraße

E-Mail: kerem@kaubstrasse.de

 

Urte Bliesemann

dock europe e. V. – Internationales Bildungszentrum

E-Mail: urte.bliesemann@dock-europe.net

 

Iwona Domachowska

Gustav-Stresemann-Institut in Niedersachsen e. V. – Europäisches Bildungs- und Tagungshaus Bad Bevensen

E-Mail: iwona.domachowska@gsi-bevensen.de

 

Christian-Friedrich Lohe

Stiftung 'Europäische Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätte Weimar'

E-Mail: lohe@ejbweimar.de

 

Malte Morische

Internationale Bildungsstätte Jugendhof Scheersberg

E-Mail: morische@scheersberg.de