Einen Bericht über Schwerpunkte in 2021 zu schreiben, geht nicht ohne eine Reflexion der durch Corona bedingten Herausforderungen: Unsicherheit im Seminar- und Projektgeschehen ließen Jahreserwartungen relativ schnell in Ernüchterung enden. Lockdown bis in den Sommer hinein, Quarantäne, Isolation oder gar Erkrankung prägten den Herbst und Winter 2021. Treffen wurden geplant, Seminare gebucht, um dann doch größtenteils wieder abgesagt oder kurzfristig verlegt zu werden.
Die Fachgruppe konnte die Zeit aber nutzen, um über Alternativen nachzudenken, wie politische Jugendbildung auch jenseits der physischen Zusammenkünfte entwickelt und wie der aktuellen Situation im Rahmen von neu gedachten Methoden und Konzepten Rechnung getragen werden kann. Es entstanden Online-Formate – sowohl digital als auch hybrid – und themenspezifische Webinare. Die dafür notwendige Änderung der Rahmenbedingungen wie die Beantragung und Installation von Konferenztechnik, digitalen Studios und den damit zusammenhängenden Schulungen waren aufwendig, aber effektiv und nachhaltig, auch für kommende Projekte.
Wichtig aber war es der Fachgruppe darüber hinaus zurückzuschauen, um die Prozesse im Rahmen einer rassismuskritischen Bildung und Diversitätsentwicklung, die die Fachgruppe vor Beginn der Pandemie anstoßen wollte, nicht aus den Augen zu verlieren und zu vergegenwärtigen. Diese Auseinandersetzung stand ebenso im Zusammenhang mit dem AdB-Jahresthema „Was WEISS ich? Rassismuskritisch denken lernen! Eine Kernaufgabe für Gesellschaft und Politische Bildung“
Rassismuskritische politische Bildung und die eigene „Haltungs-Struktur“
Seit dem Fachgruppenbericht über das Jahr 2019 lässt sich für den AdB als Verband und ebenso auch für seine Mitgliedseinrichtungen ein wachsendes Interesse an der Auseinandersetzung mit Rassismus, rassismuskritischer Bildung, Diversität und der Abbildung von Pluralität als notwendigen Bestandteil von Demokratie feststellen. Das AdB-Jahresthema 2021, das für 2022 fortgeschrieben wurde, ruft dazu auf, rassistische Wissensbestände zu reflektieren, Rassismus als Strukturprinzip wahrzunehmen und eine rassismuskritische Haltung in der politischen Bildung auszubilden bzw. einzunehmen. Das „bedeutet nicht, dass einfach ,nur' das Seminarprogramm zu antirassistischen Themen in der Bildungseinrichtung erweitert wird. (…). Vielmehr geht es darum, eine rassismuskritische Haltung zu entwickeln – sich immer wieder hierzu weiterzubilden und mit diesem Wissen die eigene Bildungsarbeit insgesamt neu auszurichten“ (Saraswati 2021, S. 15). Die Forderungen gehen sogar noch weiter. „Neben den Haltungsfragen und Kompetenzen auf individueller Ebene geht es bei Rassismuskritik immer auch um Strukturen. So kann nicht von einer rassismuskritischen politischen Bildung einer Einrichtung oder des Verbandes gesprochen werden, wenn nicht auch der Blick auf die Personal- und Gremienbesetzung, Programminhalte, Zielgruppen, Netzwerke und Kooperationen gerichtet wird.“ (Ebd.)
Der AdB und seine Mitgliedseinrichtungen beschreiben damit den Kern einer rassismuskritischen Bildung, die eine bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Sozialisation beinhaltet. Bemühungen zum Abbau von Rassismus werden so nicht länger von Selbstreflexion und Eigenverantwortung entlastet. Es geht um die kritische Auseinandersetzung mit Differenz und die Benennung von Privilegien. Und das fängt schon bei der Verwendung bzw. Konnotation von Begriffen an. Ein einfaches Austauschen von eindeutig rassistischen Begrifflichkeiten wie „Rasse“ mit „Kultur“ ändere nichts, solang ein festbestehendes „Anderssein“, z. B. von Schwarzen Menschen zur weißen Dominanzgesellschaft, konstruiert („Othering“) und die innewohnenden rassistischen Diskriminierungsdynamiken geleugnet werden. In rassistischen Strukturen wirkt Weißsein als Dominanzkultur, die in der Mehrheitsgesellschaft zumeist unmarkiert und unbenannt bleibt.
„Auch wenn sie in unterschiedlichen Erscheinungsformen auftreten, basieren alle Rassismen[1] auf verwandten Prozessen der Erfindung und Herstellung von Differenz, der Markierung von Differenz und schließlich der Hierarchisierung von Differenz. Damit erfüllen alle diese Rassismen ihre eigentliche und wesentliche Funktion: die Ziehung sozialer Grenzen.“ (Auma 2018, S. 11) Daher stehen die Analyse und Reflexion gegebener Wirkungsweisen solcher Ausgrenzungsmechanismen auch im Mittelpunkt einer rassismuskritischen und darüber hinaus einer diversitätssensiblen politischen Bildung.
So weit, so verständlich. Doch wie lassen sich diese Prozesse gestalten?
Diversitätssensible Organisationsentwicklung[2] als Toolbox
Diversitätssensible Organisationsentwicklung (DO) bietet sich an, um Chancengleichheit intern zu gewährleisten und Benachteiligungen in allen Bereichen präventiv vorzubeugen. Sie kann als Ansatz zur Umsetzung der Diskriminierungsfreiheit im Sinn des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) genutzt werden. DO versteht Vielfalt ganzheitlich, wobei diverse Dimensionen (z. B. Ethnische Herkunft, Alter, Gender, Religion/Weltanschauung, Behinderung, Sexualität etc.) intersektional, veränderbar und für gesellschaftliche Prozesse als unterschiedlich gewichtet, berücksichtigt werden.
Für die Institution bedeutet dies, dass tatsächliche Gegebenheiten beachtet, Zugangsbarrieren benannt und der Fokus auf Entwicklungsprozesse zur Förderung von Potenzialen der Mitarbeitenden gelegt werden. „Wenn sich Individuen mit diversen und unterschiedlichen Erfahrungen, Kompetenzen, Begabungen, Prioritäten, Werten, Sicht- und Lebensweisen im Kontext eines systematischen Entwicklungsprozesses entfalten können, erhöht das Eigenverantwortung und aktives Mitdenken“ (RAA 2017, S. 5), lautet dazu die Hypothese. Dort werden folgende Ebenen abgeleitet:
- Entwicklungsprozess
- Organisationskultur
- Organisationsstruktur
- Personal
- Kommunikation
- Projekt- und Dienstleistungsentwicklung
Die Umsetzung des Prozesses kann finanzielle und personelle Ressourcen erfordern und über Jahre dauern. Es sei daher sinnvoll, (zunächst) einzelne Teilbereiche anzugehen. DO richtet sich somit gleichermaßen an Leitungspersonal und Mitarbeitende. Der ganze Betrieb wird somit in die Verantwortung genommen - so die Theorie.
AdB und Bildungsstätten aus einer „diversitätssensiblen Brille“
Aus Sicht der Fachgruppe „Flucht und Migration“ lässt sich sagen, dass der Prozess angelaufen ist. Dies lässt sich an den seit zwei Jahren vom Dachverband initiierten Projekten im Zusammenhang mit dem Jahresthema belegen, von welchen auch Einrichtungen innerhalb der Fachgruppe profitieren (vgl. AdB 2021).[3] Zudem begleitet die vom AdB herausgegebene Fachzeitschrift „Außerschulische Bildung“ den Prozess und versteht sich aus unserer Sicht noch viel mehr als zuvor als institutionalisiertes Diskussionsmedium. Und dass das funktioniert, zeigt auch der Beitrag „Schwarz-Weiß-Denken. Kritische Anmerkungen zum AdB-Jahresthema 2021“ von Christian Hesse (2021) und die Reaktionen im Verband, die bis heute damit verbunden sind.
Wie sieht es aber konkret mit Veränderungen in den Mitgliedseinrichtungen aus? Hier haben wir uns als Fachgruppe eine „diversitätssensible Brille“ aufgesetzt und folgende Erkenntnisse mosaikhaft zusammengetragen. Dabei orientierten wir uns nicht nur an „Rassismus“ als Diskriminierungskategorie, sondern beziehen weitere „layers of diversity“ (vgl. RAA 2017, S. 4) mit ein:
- In der Fachgruppe sind insgesamt fünf Bildungsstätten vertreten, wobei zwei Einrichtungen dem ländlichen Raum, eine Einrichtung dem mittelstädtischen und zwei Einrichtungen einem großstädtischen Raum zugeordnet werden können. Mit Blick auf Mitarbeiter*innen und Infrastruktur zeichnen sich mindestens drei Institutionen durch eine eher homogene Struktur aus. Die absolute Mehrheit der Beschäftigten hier sind bereichsübergreifend Deutsche ohne Migrationshintergrund, und sie werden weiß gelesen.
- Auffallend ist, dass viele der Arbeitnehmer*innen aus dem nicht pädagogischen Bereich keine kleinen bzw. betreuungspflichtigen (mehr) Kinder haben. Im pädagogischen Bereich scheint die Situation etwas anders. Die Kategorie „Elternschaft“ wurde gerade in Zeiten von Corona deutlich sichtbarer und kann nicht (mehr) nur als privates „Problem“ wegdiskutiert werden.
- Zudem lässt sich für einige der Einrichtungen ein Stadt-Land-Gefälle (oder entsprechendes „Bezirksgefälle“) in den Betriebs- & Hierarchieebenen feststellen, d. h. Mitarbeitende in Leitungsstrukturen sowie Pädagog*innen wohnen mehrheitlich im urbanen Raum, Kolleg*innen der Haustechnik, Teile der Verwaltung sowie Küche in ländlichen Gebieten. Auch hier lassen sich Ableitungen für die Organisationsentwicklung treffen.
- Die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung im Sinne des SGB IX spielt in der Beschäftigtenstruktur der ausgewählten Bildungsstätten lediglich eine rudimentäre Rolle. Auch die Barrierefreiheit der Gebäude ist nicht besonders ausgeprägt. Ob nun aufgrund von Hanglagen oder des Baujahrs der Gebäude – nur wenige Seminarräume und Gästezimmer sind barrierefrei zugänglich. In einer Einrichtung ist dies gar nicht möglich.
- Insbesondere im ländlichen Bereich ist der Zugang zu Arbeitsplätzen für Schwarze Menschen, Menschen of Color und Menschen mit Migrationsgeschichte schwieriger, da sich Communities als Anziehungspunkt eher in urbanen Gegenden entfalten können. Im gleichen Zuge ist es jedoch auch für Arbeitgeber*innen im ländlichen Raum nicht immer einfach, ein diverses Kollegium aufzubauen, sodass für die zeitlich begrenzte Seminararbeit freie Referent*innen aus den Städten engagiert werden, die 60, 200 oder mehr Kilometer entfernt liegen. Das soll allerdings die Arbeitgeber*innen nicht von der Verantwortung entbinden, ihre Ressourcen für eine entsprechende Veränderung einzusetzen.
- Die vielerorts installierten Bereiche der internationalen Jugendarbeit, die Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen und die Durchführung entsprechender Projekte (z. B. Train-the-Trainer Angebote) bewirken – egal ob ländlich oder städtisch – zwar eine zunehmende Diversifizierung, ob dies dann tatsächlich in die Struktur eindringt, ist allerdings nicht selbstverständlich.
Konkretisierung anhand von Beispielen
Im Rahmen des an der Europäischen Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätte (EJBW) angesiedelten Projektes „Migrant*innen als Fachkräfte der Jugendarbeit: Qualifizierung, Empowerment, Bildungsangebote für den ländlichen Raum“ gelang es, befristete Teilzeitstellen für People of Color zu schaffen. Nach zwei Jahren Laufzeit offenbaren sich dabei allerdings Herausforderungen, mit welchen bei einer diversitätssensiblen Organisationsentwicklung zu rechnen sind: Auch Bildungsstätten, die sich auf den Weg gemacht haben, sind nicht frei von Rassismus und nicht alle Kolleg*innen sind gleich bereit, sich vorbehaltlos auf diese Prozesse einzulassen (vgl. dazu den Erfahrungsbericht Alkerdi/Tabiri/Wrasse 2021, S. 66).
[1] Antisemitischer Rassismus, Antimuslimischer Rassismus, Antiasiatischer Rassismus, Rassismus gegenüber Sinti & Roma (wenn auch mit unterschiedlichen Zielstellungen).
[2] Vgl. zu den folgenden Ausführungen: RAA e. V. (2017), Diversitätsorientierte Organisationsentwicklung: Grundsätze und Qualitätskriterien. Ein Handlungsansatz der RAA Berlin; Zugriff: 13.04.2022.
[3] Im Praxisbericht von dock europe wird auf eines der Projekte näher eingegangen. Daneben entwickelte u. a. die Bildungsstätte Kaubstraße Podcasts zu antislawischem Rassismus (siehe politischbilden.de), die EJBW konzipierte Workshops für Jugendliche und junge Erwachsene oder der Jugendhof Scheersberg näherte sich der Thematik über Teilhabeseminare, in denen Menschenrechte und Grundrechte, aber auch Abbau von Teilhabehürden zugunsten von marginalisierten Gruppen in den Fokus rückten.