“Demokratie
braucht
politische Bildung”

Brüche überwinden. Die Rolle politischer Bildung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Krisenzeiten

Online-Tagung: Brüche überwinden. Die Rolle politischer Bildung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Krisenzeiten
Foto: AdB
11.05. 2021

Online-Tagung betont die wichtige Bedeutung politischer Bildung für die Gesellschaft

Nach – erzwungen – zwei Jahren Planung, einer Verschiebung um ein Jahr, einem Umzug vom Analogen ins Digitale sowie mit einer unter Krisenbedingungen angezeigten thematischen Schärfung, fand am 4. Mai 2021 endlich die Tagung "Brüche überwinden. Die Rolle politischer Bildung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Krisenzeiten" statt. Bei der Realisierung der Veranstaltung kooperierte der Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten e. V (AdB) mit der Akademie Schwerin e. V. und der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern.

 

Die Tagung startete mit einem spannenden Vortrag des Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb Thomas Krüger zum Thema "Krisen als Chancen? Die Auswirkungen von Krisenzeiten auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt". Er stellte seinen Beitrag unter das Obama-Zitat "We’re all in this together" und machte damit deutlich, dass Krisen zuallererst im Alltag, im eigenen Sozialraum erlebt werden und alle politischen Entscheidungen und gesellschaftlichen Entwicklungen in die eigene Lebenswelt hineinwirken. Das führe bei den einen zu einer großen Solidarität, bei anderen zu Ohnmacht, Wut und Aggression. Kann politische Bildung darauf Einfluss nehmen, wie der Umgang mit den Herausforderungen in der Krise gelingt? Welche Rolle soll politische Bildung spielen? Diesen Fragen ging der Referent in seinem Vortrag auf den Grund, richtete den Blick dafür auf langfristige Ursachen der aktuellen "Krisenstimmung" und auf ihre tieferen gesellschaftlichen Auswirkungen. Was kann/muss politische Bildung tun? Um nur einige wenige Aspekte zu benennen: Politische Bildung müsse sich bewegen, auf die eigenen demokratischen Strukturen schauen und Resonanzräume schaffen, in denen sich Menschen entfalten können. Sie müsse sich von den Menschen in Anspruch nehmen lassen. Dafür können neue Partizipationsformen und aufsuchende politische Bildung hilfreich sein, d. h. politische Bildung müsse in den Sozialräumen, der Arbeitswelt, dem alltäglichen Lebensumfeld, in den ländlichen Räumen etc. sichtbarer werden. "Politische Bildung ist nicht nur für die Menschen gemacht, sondern auch von ihnen" – so der Referent. Hier geht es zum Vortragsmanuskript.

 

Jochen Schmidt, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern reagierte mit einem kurzen Input auf den Vortrag von Thomas Krüger und bestärkte dessen Ausführungen. Politische Bildung sei keine "Feuerwehr", sondern habe eine Daueraufgabe. In sechs Punkten benannte er wichtige Aspekte, wie auch Zielgruppen erreicht werden können, die oft nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stehen:

  • Stabile, langfristige Kooperationen mit Schulen und anderen Einrichtungen (Jugendhilfe, Sozialarbeit, Betriebe, Verwaltung, Polizei) ausweiten und stärken; die starre Trennung schulischer und außerschulischer Bildung aufheben;
  • Diskurs, Austausch und stärkere Zusammenarbeit mit Trägern der Demokratiestärkung (Mobile Beratung etc.);
  • Vielfältige Strukturen der Trägerlandschaft erhalten;
  • Zielgerichtete, zielgruppengerechte Angebote schaffen und die Zielgruppen selbst einbinden;
  • Politische Grundlagenbildung als Daueraufgabe der politischen Bildung im Blick behalten;
  • Eigenwerbung, Sichtbarkeit und Lobbyarbeit für die politische Bildung ausbauen.

 

Den Blick auf einen kleinen Ausschnitt des Engagements in Mecklenburg-Vorpommern gewährleisteten danach drei Projektpräsentationen:

 

  • "Die AUFmacher" – ein Projekt der Akademie Schwerin – zeigt, wie Menschen in Mecklenburg-Vorpommern eine Stimme gegeben wird und wie damit die Bürgergesellschaft gestärkt werden kann. Vorgestellt wurde das Projekt vom Projektleiter und Chefredakteur Beluga Post. Die begleitende Präsentation und eine Projektvorstellung liefern weitere Informationen.
  • Das Projekt DemokratieLaden Anklam repräsentiert einen lebendigen Ort und öffentlichen Kommunikationsraum, in dem unter dem Slogan "Politische Bildung im ländlichen Raum – offen, lebendig, demokratisch" über Politik und Demokratie diskutiert und gestritten werden kann. Das Projekt wurde von Dr. Lars Tschirschwitz vorgestellt. Die Präsentation steht hier zum Download zur Verfügung.
  • Der Bürgermeister von Witzin, Hans Hüller, vertrat die Neulandgewinner Witzin, die ein gutes Beispiel dafür sind, wie es gelingen kann, das Miteinander im ländlichen Raum zu gestalten und alle Generationen und Gruppen zu gewinnen, gemeinsam die Zukunft der Gesellschaft vor Ort, im ländlichen Raum praktisch mitzugestalten.

 

Die Beispiele konnten deutlich machen, wie der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt und wie dafür unterstützende Strukturen aufgebaut werden können. Diese sind in Krisenzeiten besonders herausgefordert und bedürfen neuer Ideen und vor allem viel zivilgesellschaftlichen und ehrenamtlichen Engagements.

 

Bettina Martin, Ministerin im Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, nahm diesen Faden auf und betonte die Aufgabe von Politik, den Rahmen für Projekte vor Ort zu setzen, die Menschen, die sich mit viel Engagement und Mut vor Ort einsetzen, zu unterstützen. Sie betonte die Rolle der politischen Bildung bei der Herausforderung, auch die zu erreichen, die sich zurückgezogen haben, die wütend sind. Der Erhalt der demokratischen Kultur sei eine Gesamtaufgabe, die alle Akteure betreffe. Sie brauche ein stabiles Netz und viele Initiativen und Projekte vor Ort. Dies könne durch das Landesprogramm "Demokratie und Toleranz gemeinsam stärken!", deren Umsetzungsstrategie gerade für die Jahre 2021 bis 2027 beschlossen wurde, zentral unterstützt werden. Die politische Bildung ist vielfältig und findet an unterschiedlichen Orten statt, wie auch im 16. Kinder- und Jugendbericht deutlich wird. Aufgabe dieser vielfältigen Landschaft sei es auch, die Grundlagen der Demokratie weiterzutragen. Denn wenn Menschen die Mechanismen der Demokratie nicht mehr verstünden, führe das zu Ablehnung, Rückzug oder sogar Demokratiefeindlichkeit. Politik müsse gerade jetzt erklären, was in der Pandemie passiert, warum z. B. Grundrechte eingeschränkt werden müssen. Die Fragen der Bürger*innen müssen beantwortet werden, damit die demokratische Kultur keinen Schaden nimmt. Hier habe die politische Bildung eine wichtige Funktion – nicht als "Feuerwehr", sondern als dauerhafter Akteur. Die Politik müsse dafür die richtigen Rahmenbedingungen setzen und diese finanziell ausstatten.

 

Dr. Adriana Lettrari, Geschäftsführerin der Ehrenamtsstiftung Mecklenburg-Vorpommern stellte aktuelle Forschungsergebnisse zur Situation der Vereinslandschaft in Mecklenburg-Vorpommern nach Corona vor, benannte Entwicklungsfelder und mögliche Hebel der Veränderung. Die Studie führte die Ehrenamtsstiftung in Kooperation mit der Fachhochschule Neubrandenburg und dem Forschungsinstitut MIGROS in Zürich durch. Sie formulierte und begründete fünf Hypothesen:

  1. Purpose first: Warum engagieren Sie sich? Was treibt Sie an? Sinnstiftung und Engagement gehören zum Leben. Das Potenzial erhöht sich in der Pandemie, denn die Sinnhaftigkeit wird besonders für junge Menschen wichtiger.
  2. Blackbox Nachwuchs: Die Bemühungen um den Nachwuchs sind zu gering. Kreative Ideen dafür fehlen. Aber auch die Sorge um Machtverlust und/oder ein zu hoher Anspruch an neue Mitarbeitende hemmen die Entwicklung.
  3. Zeitgemäße Arbeitsformen brauchen (zu viel) Zeit. Die Digitalisierung ist eine große Lücke, denn ohne digitale Arbeitsformen ist die Vereinsarbeit unter Pandemiebedingungen nicht möglich. Die digitale Kompetenz fehlt oft, ebenso wie die finanziellen Mittel.
  4. Ruf nach Kooperationspartnern: Es wird mehr Zusammenarbeit mit Politik gewünscht. Es fehlt an günstigen Rahmenbedingungen und Plattformen des Austauschs.
  5. Dauerbrenner Fundraising: Vereine sind weiterhin auf der Suche nach langfristiger Förderung und finanzieller Sicherheit. Es wird eine Verantwortungsübernahme der lokalen Unternehmen gewünscht.

 

Die Ehrenamtsstiftung will vor dem Hintergrund dieser Befunde Vereine und Engagierte noch mehr miteinander vernetzen, eine Plattform für Austausch und gegenseitige Unterstützung bieten und das Engagement und die Teilhabe unterstützen. Hier geht es zur Präsentation.

 

Den Abschluss der Veranstaltung bildete eine Gesprächsrunde, bei der es noch einmal explizit um die Rolle der politischen Bildung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Krisenzeiten gehen sollte. Gesprächspartner*innen waren Dr. Adriana Lettrari von der Ehrenamtsstiftung Mecklenburg-Vorpommern, Joachim Bussiek von der der Akademie Schwerin e. V., Jochen Schmidt, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern sowie Jan Holze, Vorstand der im Sommer 2020 neu gegründeten Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt mit Sitz in Neustrelitz.

 

In der Diskussion wurde deutlich, dass sich in den Neuen Bundesländern ein hohes Maß an Transformationskompetenz, aber auch Frusttoleranz entwickelt habe und die Menschen wenig Angst vor Veränderung hätten. Ostdeutschland habe eine hohe Lebensqualität. Dennoch sei es problematisch gewesen, als nach 1990 zunächst viele junge Menschen abgewandert seien. Damals stand die Zivilgesellschaft vor großen Herausforderungen. Menschen in verantwortlichen Positionen seien mittlerweile gereift und an den Aufgaben gewachsen. Hier könne durchaus Know-how auch in Richtung der Alten Bundesländer transportiert werden.

 

Krisen eröffnen Chancen, aber sie führen auch zu Spaltungen. Daher sei es eine zentrale Chance und Verantwortung politischer Bildungsträger, Bürger*innen mit unterschiedlichen Meinungen zusammenzubringen – "filterblasenübergreifend" zu faktenbasiertem, respektvollem Streit anzuregen und dafür die entsprechenden Räume zur Verfügung zu stellen. Um Argumente zu streiten ist die Essenz lebendiger Demokratie. Dies setze aber voraus, dass abweichende Meinungen akzeptiert werden, persönliche Angriffe vermieden, die Positionen der Anderen ernst genommen sowie Fakten wahrgenommen werden. Hier habe die politische Bildung mit dem Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsenses eine wichtige Richtschnur. Ein solcher Streit – organisiert in Bildungsveranstaltungen – könne "heilsam" gegen Spaltungstendenzen wirken.

 

In diesem Kontext sei es auch gerade jetzt wichtig, die Themen Grundrechte und Grundrechtseinschränkungen in der aktuellen Debatte nach vorn zu bringen. Das sollte gemeinsam von politischer Bildung und dem Engagement-Bereich initiiert werden.

 

Die Corona-Krise habe Probleme offenbart und bestärkt, die es auch vorher schon gab. Auch der demokratische Streit ist nicht erst seit einem Jahr in die Krise gekommen. Daher sei es so wichtig, Gesprächsräume zu eröffnen oder vorhandene – wie sie z. B. in den vorgestellten Projekten sichtbar wurden oder auch mit dem Demokratiebus der Landeszentrale vorhanden sind – zu stärken. Die Akteure politischer Bildung müssen sich also immer fragen, wie sie Menschen ins Gespräch bringen können. Es reiche aber nicht aus, wenn einzelne Träger, Initiativen oder Verbände dies "von außen" anregen, sondern vor Ort müssen Anker – engagierte Menschen – vorhanden sein.

 

Träger und Einrichtungen der politischen Bildung und des zivilgesellschaftlichen Engagements haben in den letzten Monaten kreativ, innovativ und mit viel Leidenschaft auf die Einschränkungen reagiert und viele Angebote online gestellt. Hier sei eine enorme Lernkurve zu beobachten. Diese innovativen Formate und digitalen Wege können für Träger eher Chance als Gefahr sein. Sie ersetzen das bisherige Angebot nicht, können es aber ergänzen. Insgesamt könne ein positiver Gedanke des "Modernisierungsschubs" mitgenommen werden. Wichtig sei es aber, dies nach der Pandemie nicht zu vergessen, sondern die neuen Kenntnisse weiterhin gut zu nutzen und die Förderrichtlinien entsprechend anzupassen, um diese Angebote dauerhaft zu ermöglichen.

 

Von der bevorstehenden Landtags- und Bundestagswahl wünschten sich die Gesprächspartner*innen, dass politische Bildung und Ehrenamt weiterhin auf der Tagesordnung stehen und entsprechende Unterstützung erfahren. Dazu müssen die politische Bildung und die Vertreter*innen der ehrenamtlichen Strukturen aber auch laut und sichtbar dafür eintreten und wachsam sein, dass die relevanten Themen nicht vergessen werden. Politische Bildung müsse jetzt aktiv werden und Forderungen stellen – auch mit Blick auf Förderung und Rahmenbedingungen.

 

Insgesamt war in dieser Veranstaltung viel Entschlossenheit, die Krise als Chance zu nehmen, sowie insgesamt eine positive Grundstimmung zu spüren. Gefragt nach Wünschen für die Zukunft, wurde die Verbesserung der Rahmenbedingungen und die Unterstützung dauerhafter Strukturen genannt, eine dringend notwendige Entbürokratisierung und Anpassung der Richtlinien. Seitens der Träger wurde eine stärkere Lobbyarbeit im Vorfeld der Wahlen angemahnt. Hierfür könne der 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung hervorragend genutzt werden.

 

Im Einladungsflyer zu dieser Tagung haben die Veranstalter gefragt, wie wir voneinander lernen und die Stärken politischer Bildung in Krisenzeiten deutlich gemacht werden können. Mit dieser Tagung wurde ein wichtiger Schritt gegangen: die unterschiedlichen Akteure wahrnehmen, miteinander ins Gespräch kommen, neue Ideen entwickeln, sich gegenseitig unterstützen. Die politische Bildung hat eine wichtige Funktion in der Demokratie – nicht nur in Krisenzeiten. Aber sie muss sich auch bewegen. Wichtige Elemente sind dabei die Kooperation mit anderen Akteuren, die aufsuchende Arbeit, der Erhalt der (neuen) digitalen Kompetenz, die Entwicklung neuer Formen durch die Verknüpfung von analogen und digitalen Elementen, das Aushalten von Kontroversen, die Beförderung einer guten Streitkultur sowie die Bereitstellung von sicheren Orten für die notwendigen Diskurse mit Menschen, die unterschiedliche Meinungen einbringen. Dafür benötigt politische Bildung verlässliche Rahmenbedingungen.

 

Die Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern stellt Vorträge, Präsentationen und weitere Materialien zur Tagung in ihrem Veranstaltungsarchiv zur Verfügung. 

 

Diese Veranstaltung war Teil einer vom AdB 2015 ins Leben gerufenen Tagungsreihe der AdB-Fachzeitschrift "Außerschulische Bildung", bei der in jedem Jahr eine Veranstaltung zum thematischen Schwerpunkt des ersten Heftes in Kooperation mit anderen Einrichtungen oder Organisationen und in einem anderen Bundesland durchgeführt wird. Hintergrund und Anregung für diese Tagung waren demzufolge die Ausgaben zu den Themen "Solidarität – Gelebte Vielfalt und gesellschaftlicher Zusammenhalt" sowie "Veränderungen in der Arbeitswelt und die Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft". Die Zeitschrift steht auch als Online-Ausgabe zur Verfügung.