“Demokratie
braucht
politische Bildung”

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wertorientierungen des Grundgesetzes und gesellschaftlicher Wandel

Die Teilnehmer*innen beim Beantworten der Quizfragen zum Grundgesetz
Foto: AdB
12.12. 2018

Bericht von der AdB-Fachtagung zum Jahresthema 2019

Am 27. und 28. November 2018 fand im Bildungshaus Zeppelin & Steinberg e. V. in Goslar die diesjährige Fachtagung des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten (AdB) zum Thema „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wertorientierungen des Grundgesetzes und gesellschaftlicher Wandel“ statt. Mehr als 60 Teilnehmende folgten der Einladung nach Goslar.

 

Der AdB-Vorsitzende Ulrich Ballhausen eröffnete die Tagung und stellte das Tagungsthema in den Kontext gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen wie Globalisierung, Digitalisierung und Rechtspopulismus. Daraus würden sich Spannungsverhältnisse zu den Wertorientierungen des Grundgesetzes entwickeln, die in der politischen Bildung aufgegriffen und bearbeitet werden müssten. Ulrich Ballhausen hob hervor, wie wichtig es sei, die Grundrechte zu verteidigen, zu ihrer Sicherung und Weiterentwicklung sowie zu ihrer Vermittlung beizutragen.

 

Diesem Auftrag wollen sich der AdB und seine Mitgliedseinrichtungen im kommenden Jahr besonders widmen. Dafür haben sie das Jahresthema – gleichlautend zum Tagungstitel – als Orientierung und Rahmen gewählt.

 

Unterstützt durch das online-Tool kahoot.it starteten Tabea Janson und Lea Jaenicke aus der AdB-Geschäftsstelle mit einem Fragequiz zum Grundgesetz in den Themenschwerpunkt der Tagung. Den Faden dieser ersten Auseinandersetzung nahm Professor Dr. Christoph Gusy, Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht, Staatslehre und Verfassungsgeschichte an der Universität Bielefeld, mit seinem Vortrag auf. Unter dem Titel „In guter Verfassung? Das Grundgesetz und die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels“ explizierte er acht Thesen zur Rolle des Grundgesetzes, zum Verhältnis dieses Regelwerkes zu EU-Recht und den Landesverfassungen und zu den Verfassungsdebatten der letzten Jahrzehnte.

 

Dass die Bundesrepublik im Zentrum Europas eine historisch einzigartig lange Epoche von 70 Jahren Frieden, Demokratie und Menschenrechten durchleben konnte, ist – so der Referent – auch ein Verdienst ihrer Verfassung. Das Grundgesetz legitimierte sich anfangs am ehesten aus seiner politischen Alternativlosigkeit. Es gibt Leitlinien und Grenzen vor, lässt aber auch Änderungen zu, die durch gesellschaftliche Wandlungsprozesse nötig werden. Die Bevölkerung hat das Grundgesetz damals nicht beschlossen, aber sie hat nachträglich durch die Beteiligung an zahlreichen Wahlen, die Mitgliedschaft in demokratischen Parteien, durch gesellschaftliche Unterstützungsorganisationen und die Übernahme von Wahl- und Ehrenämtern zugestimmt. Zentrale Themen der Verfassungsdiskussionen waren u. a. Sicherung und Ausbau der Demokratie, „alte“ oder „neue“ Sicherheitsarchitektur, Umbau des Föderalismus, europäische Einigung, Ausbau der Grund- und Menschenrechte, insbesondere die Menschenwürde.

 

Die Bundesrepublik und ihr Recht sind „offener“ und internationaler, sozialer und ökologischer, transparenter und zivilgesellschaftlicher geworden – auch durch die Europäisierung und Globalisierung. Wenn aber die Menschen den Wert der europäischen Einigung nicht mehr einsehen, so der Referent, gefährdet dies nicht nur die Legitimation der Europäischen Gemeinschaft, sondern auch diejenige der Verfassungen seiner Mitgliedstaaten. Es sei wichtig, die berechtigten Sorgen der Menschen ernst zu nehmen, sich aber auch immer wieder für die freiheitliche Demokratie einzusetzen. Dafür kann unser Grundgesetz Grundlage und Richtung sein.

 

Nach dem Vortrag gingen die Teilnehmenden in drei Gesprächsforen, die die Möglichkeit boten, den Tagungstitel aus drei unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten: Im Gesprächsforum „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ widmeten sich die Teilnehmenden der Frage, ob, wodurch und wie weit die Menschenwürde antastbar geworden ist und welche Entwicklungen dabei in den letzten Jahren zu beobachten sind. Beispiele von menschenverachtenden Äußerungen in politischen Debatten dienten als Ausgangspunkt der Diskussion. Nicht zuletzt ging es auch um die Frage, was diese Entwicklung für die politische Bildung bedeutet. Angeleitet wurde dieses Gesprächsforum von Sebastian Bock und Tabea Janson.

 

Im Gesprächsforum „Wertorientierungen des Grundgesetzes“ waren die Wände des Seminarraums mit unzähligen Karten beklebt, auf denen verschiedenste Werte notiert waren. In Kleingruppen ordneten die Teilnehmenden diese Werte den Grundrechten zu. Anschließend diskutierten sie mögliche Zusammenhänge der Wertorientierung der Grundrechte bzw. des Grundgesetzes mit dem Alltag politischen Bildens. Das Forum wurde moderiert von Lea Jaenicke und Georg Pirker.

 

Das dritte Gesprächsforum widmete sich dem „Grundgesetz im gesellschaftlichen Wandel“. Das Grundgesetz wurde in den vergangenen 70 Jahren immer wieder verändert und an die gesellschaftlichen Entwicklungen angepasst. So spiegelt es in gewisser Weise in seiner heutigen Form den gesellschaftlichen Wandel der vergangenen Jahre wider. Mit Hilfe eines Zeitstrahls konnten die Teilnehmenden diesem Wandel nachgehen und diskutieren, welche gesellschaftlichen Ereignisse welche Veränderungen ausgelöst und wie diese wiederum die Gesellschaft beeinflusst haben. Diskutiert wurden auch hier der Bezug zur Praxis politischer Bildung und die Frage, wie das Grundgesetz im gesellschaftlichen Wandel stärker zum Thema in der politischen Bildung gemacht werden kann. Dieses Forum leiteten Sina Şimşek und Friedrun Erben.

 

Angeregt durch die Gespräche und Eindrücke kamen die Teilnehmenden wieder im Plenum zusammen und sammelten mit dem online-Tool Mentimeter (menti.com) Antworten auf die Frage: „Was braucht unsere Demokratie, um in guter Verfassung zu sein?“

 

Der erste Veranstaltungstag endete mit einer beeindruckenden Führung durch den Roederstollen im Weltkulturerbe Rammelsberg.

 

Mit dem Einstieg in den zweiten Tag wurde das Mentimeter-Stimmungsbild vom Vortag noch einmal präzisiert mit der Frage: „Was trage ich dazu bei, dass unsere Demokratie in guter Verfassung ist?“ War das erste Bild noch gefüllt mit eher abstrakten Begriffen, wurde es nun konkreter und persönlicher – eine passende Überleitung zur Arbeit in den drei Workshops, bei der es um die konkrete Praxis politischer Bildung und die eigene Haltung ging:

 

Dr. Dennis Riffel und Annalena Baasch von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. boten einen Workshop mit dem Titel „Demokratiegeschichte als Demokratiestärkung – Spurensuche vor Ort“ an. Sie machten deutlich, dass sich Demokratie und ihre Geschichte nicht nur in Hauptstädten und Parlamenten abspielen, sondern an jedem Ort Deutschlands Spuren von Demokratie und Partizipation zu finden sind. Die Teilnehmer*innen erarbeiteten Beispielseminare – insbesondere mit Blick auf die demokratiegeschichtlichen Jubiläen des Jahres 2019 – in den Bereichen der Jugend- und Erwachsenenbildung mit Zugängen zur Demokratiegeschichte vor Ort.

 

Frank Feuerschütz, Jugendbildungsreferent in der Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein e. V., stellte im Workshop „Die Würde des Menschen ist unantastbar – auch im Netz?“ die Bewahrung der Freiheitsrechte als große Herausforderung des 21. Jahrhunderts in den Fokus, die sich sowohl in den klassischen als auch in den digitalen Medien stellt. Was geschieht mit unseren Grundrechten, wenn sich die Künstliche Intelligenz (KI) immer weiterentwickelt und Entscheidungen über immer mehr Bereiche in unserem Leben trifft? Was passiert, wenn KI selbstständig lernt und Einfluss darauf haben wird, wie wir in Zukunft arbeiten und leben werden? In diesem Workshop wurde diskutiert, wie diese Konsequenzen aussehen und welcher Auftrag sich daraus für die politische Bildung ergibt.

 

Im Workshop „Wer spielt hier mit den Grundrechten unserer Demokratie? Kreative Zugänge zum Grundgesetz“ machten die Referentinnen Claudia Carla und Claudia Kühhirt von der Evangelischen Akademie der Nordkirche mit den Teilnehmenden den Praxistest: Kann man sich mit Lust und Interesse mit den Grundrechten beschäftigen und ihre Bedeutung für das eigene Leben und das Miteinander erkennen? Dafür stellten sie das Spiel „GG20 – Spiel mit den Grundrechten unserer Demokratie“ zur Verfügung sowie die Ausstellung mit den Illustrationen zum Grundgesetz. Deutlich wurde: Die Grundrechte sind „der Rede wert“! Die Referentinnen berichteten von ihren positiven Erfahrungen in der Bildungsarbeit und von den verschiedenen Einsatzmöglichkeiten.

 

Mit dem Blick nach vorn, den Herausforderungen und Aufgaben insbesondere der politischen Bildung, beschäftigte sich Dr. Ellen Ueberschär, seit Juli 2017 im Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, in ihrem Vortrag mit dem Titel „Das Grundgesetz ist Vorgabe, Orientierung und Verpflichtung für demokratisches Handeln. Wie füllen wir es mit Leben? Was ist der Auftrag heute?“. Sie beschrieb die aus ihrer Sicht größten Herausforderungen des liberalen Verfassungsstaats seit 1989 anhand von verschiedenen Krisensymptomen: dem Unsicherheitsgefühl in weiten Teilen der Gesellschaft, dem daraus erwachsenen Pessimismus, dem Leistungsversagen des Staates. Sie wies auf den Kontrollverlust durch Globalisierungserfahrungen und Europäisierung hin, auf die Repräsentationslücke, da sich Teile der Wähler*innen nicht mehr gehört und vertreten fühlen, sowie auf neue und alte Feinde der Demokratie. Dazu gehören auch digitale Strategien der Beeinflussung, Manipulationen und Verschwörungstheorien.

 

Was bedeutet das alles für die politische Bildung? Wie ist sie aufgestellt – gerade auch in strukturschwachen Regionen? Was kann sie dem Agendasetting rechter Populisten entgegensetzen? Wie kann sie sich in die Diskussionen im Netz einmischen? Die Referentin hob die Bedeutung und den Wert einer ausdifferenzierten und stabilen Zivilgesellschaft hervor, zu der auch die Träger politischer Bildung gehören. Politische Bildung kann über verschiedene Wege und Formate, fundiert durch ein verlässliches Wissen und verbunden mit einer klaren Haltung, Orientierung geben. Die verbindenden Werte müssen dabei gemeinsam ausgehandelt werden. Politische Bildung sollte die Urteilskraft stärken und zum politischen Handeln anregen. Was sind die Narrative, die den Menschen Lust machen, das Land mitzugestalten? Starke Schlüsselpersonen, so die Referentin, sind dabei hilfreich und können positive Emotionen transportieren, die wiederum die Welterschließung strukturieren. Aber: Es ist ein langer Weg hin zu einer resilienten Demokratie.

 

Den Abschluss der Tagung bildeten Statements aus drei Perspektiven: Linda Blöchl, Referentin und Landeskoordinatorin von „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ in der Außenstelle Bremerhaven der Landeszentrale für politische Bildung Bremen, gab den Teilnehmenden ein Feedback zu ihrem Erleben während der Tagung: Der konstruktive Austausch und die Diskussionsfreudigkeit stimmen hoffnungsvoll und geben vielfältige Anregungen. Wichtig sei es aus ihrer Sicht, generationsübergreifend zu arbeiten und in der Fläche zu wirken. Auch ein kleines Engagement könne zu Veränderungen führen.

 

Auch Roland Wylezol, Leiter der Bildungsstätte Alte Feuerwache e. V., Jugendbildungsstätte Kaubstraße, versicherte, verschiedene Anregungen mit in den Arbeitsalltag nehmen zu können. Er verwies auf die Notwendigkeit, gerade auch die Menschen in die Veranstaltungen politischer Bildung einzubeziehen, die von Ausgrenzung und Diskriminierung betroffen seien, um die Wertorientierungen, die mit dem Grundgesetz verbunden sind, praxisnah in den Alltag der Bildungsarbeit zu integrieren.

 

Ina Bielenberg, Geschäftsführerin des AdB, hatte, wie es bereits gute Tradition ist, das Schlusswort: Ihr war es wichtig, noch einmal auf die enge, dynamische Wechselbeziehung zwischen dem Grundgesetz und den gesellschaftlichen Entwicklungen hinzuweisen. Das Grundgesetz stellt den Rechtsrahmen für die Demokratie, ist darüber hinaus aber auch ein mit Werten verbundenes Regelwerk für das demokratische Zusammenleben. Die Frage, welche Werte die politische Bildung vermittelt oder vermitteln sollte, ist wohl so alt wie die Profession selbst. Ihr Ziel ist es, Menschen die Kompetenz zu vermitteln, politisch urteilen und handeln zu können, Urteils- und Handlungsfähigkeit sind dabei immer wertegebunden. Aufgabe der politischen Bildung muss es daher sein, die mit dem Grundgesetz verbundenen Wertvorstellungen wieder stark zu machen, den Wert der liberalen und offenen Demokratie in den Mittelpunkt zu rücken und eine neue Lust auf das Mitmachen zu wecken, das nicht auf Egoismus und Abgrenzung basiert.