“Demokratie
braucht
politische Bildung”

Polyphonic Encounters - Politische Bildung in einer pluralen Gesellschaft weiterentwickeln

Max Czollek spricht auf dem AdB-Fachtag "Polyphon! Diversität in der politischen Bildung stärken"
Foto: AdB
16.06. 2022

Fachtagung des AdB-Projektes "Polyphon! Diversität in der politischen Bildung stärken"

Was muss sich strukturell ändern, damit (historisch-) politische Bildung einer vielfältigen Gesellschaft gerecht wird? Was sind die bisher wenig thematisierten rassismus- und antisemitismuskritischen Leerstellen in Trägerstrukturen und Organisationen der (historisch-) politischen Jugend- und Erwachsenenbildung? Wie kommen wir von einer häufig reinen Proklamation von mehr Diversität ins tatsächliche diversitätsorientierte Handeln? Diese Fragen standen im Fokus der Fachtagung „Polyphonic Encounters – politische Bildung in einer pluralen Gesellschaft weiterentwickeln“, die am 2. Juni 2022 in Berlin stattfand. Die Tagung war eine Kooperationsveranstaltung des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten e. V. mit der Heinrich-Böll-Stiftung und fand im Rahmen des AdB-Projektes „Polyphon! Diversität in der politischen Bildung stärken“ statt.

 

Diskriminierungskritik als Konsequenz von Erinnerungskultur

Dass das Thema einen Nerv trifft, wurde an dem großen Interesse an der Tagung deutlich, die bereits nach wenigen Tagen ausgebucht war. In ihren Eröffnungsreden machten Mekonnen Mesgena, Referent der Heinrich-Böll-Stiftung für Migration und Diversity, sowie Narmada Saraswati, Projektleiterin des Polyphon-Projektes, deutlich, warum gerade politische Bildung nach 1945 eine große Verantwortung in Bezug auf das Thema Diversität zukommt, aber gleichzeitig immer noch eine große Diskrepanz zwischen Haltung und Handeln in den eigenen Strukturen zu beobachten sei, wenn es um die Abbildung gesellschaftlicher Vielfalt gehe. So fehle es eindeutig nicht an politischen Bildner*innen of Color, aber sie fehlen ganz häufig in den etablierten Organisationen der außerschulischen politischen Bildung.

 

Dr. Max Czollek, der den Eröffnungsvortrag mit dem Titel „Radikale Vielfalt in der Erinnerungskultur – Erinnerungskultur in der radikalen Vielfalt“ hielt, knüpfte an die Einführungsworte in Bezug auf Erinnerungsnarrative an. Wir haben hier immer noch mit einer gesellschaftlichen Homophonie zu kämpfen, in denen marginalisierte Stimmen wie von Jüdinnen*Juden oder Menschen mit Rassismuserfahrung zu wenig Eingang finden. Eine heterogene demokratische Gesellschaft, die jedoch ein „nie wieder“ ernst nimmt, ist allerdings auf die Perspektivenvielfalt von Minderheiten angewiesen und müsse eine „Gegenwart so einrichten, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt.“  Als Konsequenz daraus folgt, dass Erinnerungskultur mit Diskriminierungskritik zusammengedacht werden muss. Das heißt auch zu lernen, dass es sich bei Vielfalt nicht (nur) um eine harmonische Bereicherung für die Mehrheitsgesellschaft handelt, sondern um eigenständige und selbstbestimmte Stimmen, die gesellschaftliche Dominanzlogiken und damit eine vermeidliche Harmonie in Frage stellen. Gerade in dem offiziellen Gedenken an die Shoah wird die Homophonie sehr deutlich. Hier spielt das Versöhnungs- und Entlastungsnarrativ der Mehrheitsgesellschaft häufig eine wesentlich größere Rolle als die Verhandlung von Gerechtigkeitsfragen, die in vielen Fällen bis in die Gegenwart ausblieb.

 

Welche gesellschaftlichen Voraussetzungen machen Gewaltgeschichten möglich?

Der Historiker und Migrationsforscher Dr. Patrice G. Poutrus von der Universität Erfurt konnte mit seinem Input „Jenseits von Vereinheitlichung und Konkurrenz. Über die Schwierigkeiten eine plurale Erinnerungskultur zu etablieren“ gut an Czolleks Vortrag anschließen. Beim Thema Erinnerungskultur reiche es nicht aus nur über die Zeit des Nationalsozialismus zu sprechen, sondern vielmehr müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, wie es dazu kommen konnte und was die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür waren. Auch müssen wir zwischen „Vergangenheit“ und „Geschichte“ unterscheiden lernen. Vergangenheit ist, was passiert ist und Geschichte ist das, was über die Vergangenheit erzählt wird. Dabei muss beachtet werden, dass hinter Geschichte immer auch Intentionen stehen. Daher sollte auch gefragt werden, welche Geschichten nicht erzählt werden und an was nicht erinnert wird. Gerade aufgrund der deutschen Vergangenheit sollten sich insbesondere Akteur*innen der (historisch-)politischen Bildung mit ihren eigenen familiären Geschichten auseinandersetzen.

 

Politische Bildung in einer postkolonialen und postnationalsozialistischen Gesellschaft

Das zentrale Podiumsgespräch wurde von Roland Wylezol, Leiter der Jugendbildungsstätte Kaubstraße und AdB-Vorstandsmitglied, moderiert. Es setzte sich mit rassismus- und antisemitismuskritischen Leerstellen in der non-formalen politischen Bildung auseinander und welchen Einfluss hier die deutsche Geschichte für die Gegenwart spielt.

 

Auf dem Panel diskutierten Prof.in Dr.in María do Mar Castro Varela von der Alice Salomon Hochschule Berlin, Marina Chernivsky vom Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment/OFEK e.V., Isidora Randjelović vom Verein RomaniPhen e.V. und Peggy Piesche von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. Gleich zu Beginn wiesen Chernivsky und Castro Varela darauf hin, dass das „post“ in Bezug auf den Nationalsozialismus und den Kolonialismus kein vollständiger Abschluss dieser deutschen Gewaltgeschichte bedeuten würde. Im Gegenteil, es verweist auf die bis heute anhaltenden Fortwirkungen, die sich auch im Bildungsbereich durch diskriminierungskritische Leerstelle äußern.

Castro Varela ergänzte, dass es adäquater sei von einer „gestatteten Ignoranz“ anstatt von Leerstellen in der politischen Bildung zu sprechen, da das Wissen zu Diskriminierungskritik und notwendigen institutionellen Veränderungsprozessen oft schon vorhanden sei, aber sich dennoch kaum etwas in den Strukturen verändere. Akteur*innen der non-formalen Bildung sollten sich daher die Frage stellen, welche Felder der Ignoranz bei ihnen in Bezug auf das Thema vorhanden sind und was (immer noch) ignoriert wird, obwohl darüber gesprochen wurde.

Randjelović wies darauf hin, dass man bei institutionellen Veränderungsprozessen immer noch mit sehr viel Widerstand konfrontiert sei und die Kritik oft nicht angenommen werde. Sie berichtete aber auch von einer positiven Erfahrung mit einem Träger der non-formalen Bildung:  Die Berliner Jugendbildungsstätte Kaubstraße hätte vor einigen Jahren ein größeres Bildungsprojekt zu Rassismus gegenüber Sinti*zze und Rom*nja umgesetzt.

Auf die Kritik von RomaniPhen, dass dem Team keine Menschen mit Erfahrungswissen und/oder Expertise angehörten, reagierte die Bildungsstätte und das Team wurde entsprechend ersetzt. Piesche ging in der Diskussion u.a. auf das Selbstverständnis politischer Bildung ein. Dieses sei lange Zeit aus der Deutungshoheit der Mehrheitsgesellschaft generiert worden. Gerade durch den Einfluss zivilgesellschaftlicher Bewegungen ist hier langsam eine Veränderung bemerkbar und diese sei sehr wichtig. Die Pluralität der Gesellschaft müsse sich auch in der politischen Bildung widerspiegeln. Allerdings sei zu beobachten, dass der Begriff ‚Diversity‘ inzwischen fast inflationär von Institutionen verwendet werde, aber kaum Konsequenzen folgen. Ziel müsse aber immer die strukturelle Verankerung von Diversität sein.

 

Alle Diskutant*innen waren sich einig, dass bisherige gesellschaftliche Fortschritte in Bezug auf Antirassismus und Anti-Antisemitismus nur durch die Arbeit und den Druck von zivilgesellschaftlichen Bewegungen möglich war.

 

Von der Podiumsdiskussion ging die Fachtagung in eine Workshop-Phase über, die verschiedene Aspekte zu Veränderungsprozessen in Organisationen der politischen Bildung vertiefte. In Kleingruppen wurde darüber diskutiert. Katja Kinder von der RAA Berlin & ADEFRA e.V.  leitete einen Workshop zu „Wahrnehmung – Haltung – Handlung. Rassismuskritische politische Bildungsarbeit – viel mehr als nur eine Methode“, Nursemin Sönmez von den neuen deutschen organisationen - das postmigrantische netzwerk e.V. bot einen Input und Austausch zu „The Nonperformativity of Diversity – Wenn Veränderungsprozesse (nicht) gelingen“ an und gemeinsam mit Samuel Njiki Njiki von der Jugendbildungsstätte Bremen – LidiceHaus setzten sich die Teilnehmenden mit „Nothing About Us Without Us!“ Gestaltungsprozesse demokratisieren: Was bedeutet das für die politische Bildung?“ auseinander.

 

Vor dem anschließenden Get-together auf der Terrasse der Heinrich-Böll-Stiftung wurde das Tagungsprogramm mit einem sehr pointierten und klugen „Lyrical Recording“, einer lyrischen Zusammenfassung der Tagungsinhalte, von Izabela Zarębska von der Jugendbildungsstätte Kaubstraße, abgeschlossen.

 

Da das Polyphon-Projekt in 2022 endet, wurde auch mit Unterstützung dieser Tagung wichtige Ziele erreicht: Die Weiterentwicklungsbedarfe der Profession politischer Bildung, um einer pluralen Gesellschaft gerecht zu werden, wurden identifiziert und klar benannt. Eine Veränderung ist nur mit der gleichberechtigten Einbeziehung von Stimmen möglich, die von struktureller Diskriminierungserfahrung betroffen sind. Die Auseinandersetzung mit Diversität bedeutet auch, sich mit gewissen Kontinuitäten der deutschen (Gewalt-)Geschichte in Bezug auf Kolonialismus und Nationalsozialismus auseinanderzusetzen sowie daraus Konsequenzen für eine demokratische, gleichberechtigte und vielfältige Gesellschaft und politische Bildung zu ziehen.